Man müsse sich diese KPÖ Graz ansehen, schwärmte dieser Tage Katalin Gennburg, ihres Zeichens direkt wiedergewähltes Mitglied der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus. Hatten doch am Tag des Hauptstadt-Wahldebakels andernorts bekennende Kommunisten eine Rathauswahl gewonnen, in der steirischen Landeshauptstadt, mit beinahe 29 Prozent der Stimmen! Die 37-jährige Gennburg schrieb daraufhin auf Facebook: „Als ich von Elke Kahr las, dass sie mit Empathie und Menschlichkeit die Menschen erreicht, dachte ich gleich, genau das fehlt uns viel zu oft als Linke, obwohl das so einfach ist!“ Oder auch nicht. Überhaupt: Inwieweit können Grazer Genossen auf Fragen, die sich aktuell der Linken in Berlin stellen, eine Antwort geben?
Vorab sei angemerkt, da
emerkt, dass in Österreich politisch vieles anders ist – und nicht gerade besser. So ist der gesellschaftliche Diskursrahmen erheblich weiter nach rechts gerückt. Dass ein Vizekanzler im Urlaub eine russische Oligarchennichte auffordern würde, die Bild-Zeitung zu kaufen und Redakteure rauszuschmeißen, ist hierzulande noch unvorstellbar. Ebenso wenig, dass das Bundesfinanzministerium im Boulevard Anzeigen schaltet und dafür wie selbstverständlich eine redaktionelle Gegenleistung erwartet. Andererseits hat der Antikommunismus in Österreich keine solch ausgeprägte Tradition entwickelt. Neben SPÖ und ÖVP war die KPÖ die dritte Gründungspartei der Zweiten Republik. In der ersten Nachkriegsregierung unter Leopold Figl (ÖVP) stellten die Kommunisten zwei Jahre lang den Minister für Energiewirtschaft und Elektrifizierung. Wien hatte sogar einen kommunistischen Polizeichef. Und noch heute hängt in der Schönbrunner Schloßstraße eine Stalin-Gedenkplatte. Aber das ist eine andere Geschichte.Jedenfalls ist „Leningraz“ mit seinen 230.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt in Österreich. Und dass die KPÖ hier kürzlich die Rathauswahl gewonnen hat, kommt einer Zäsur gleich. Tatsächlich war es die erste Wahlniederlage für die ÖVP in der Ära des soeben zurückgetretenen Kanzlers Sebastian Kurz – zu einem Zeitpunkt, als dieser in seiner Partei noch unumstritten war. Die Türkisen, wie Kurz die ehedem schwarze Volkspartei umgefärbt hat, haben in Graz ganze zwölf Prozent verloren. Was für ein Absturz! Und das trotz solcher Ankündigungen wie die Winterolympiade 2026 nach Graz zu holen oder eine U-Bahn zu bauen. Anders die KPÖ, die erst gar keine Wahlversprechen gemacht hat. Die fünfhundert Sozialwohnungen, die auf ihre Initiative hin in den letzten Jahren gebaut wurden, sprechen für sich. Samuel Stuhlpfarrer, der jahrelang in Graz für eine KPÖ-nahe Stiftung gearbeitet hat und heute als Herausgeber der linken Monatszeitschrift Tagebuch tätig ist, sieht gerade im sachlichen Auftreten der KPÖ das Auffällige. Wochenlang haben sie mit dem Slogan geworben: „Es ist an der Zeit!“, frei nach dem Liedermacher Hannes Wader. Als dann in den letzten Tagen des Wahlkampfs jedermann spürte, wie sehr die gesellschaftliche Stimmung gekippt war, machten die Genossen daraus: „Es ist Zeit für Veränderung!“ – ein bekannter Sebastian-Kurz-Slogan, dessen Sprache sich plötzlich gegen ihn selbst richtete. „Das war ein genialer Scoop!“, sagt Stuhlpfarrer. – Offenbar haben der Berliner Linkspartei solche Einfälle gefehlt, von Ideen ganz zu schweigen.In einem Café nahe dem Berliner Abgeordnetenhaus sitzen wir, mit Blick auf den Potsdamer Platz. Katalin Gennburg hat etwas Zeit gefunden, aber keine Ruhe. Dass sie keinen Latte macchiato, sondern Kräutertee trinkt, sei nur nebenbei berichtet. Und auch, dass sie das Wort von der „Lifestyle-Linken“, das Sahra Wagenknecht im Wahlkampf so hilfreich in den Diskurs eingeführt hat, vehement ablehnt. Die Stadtentwicklungsexpertin, deren politischer Werdegang im Reformerflügel der PDS begann, sympathisiert heute mit der Bewegungslinken. Sie spricht von einer grundsätzlichen Erneuerung der Partei, von Ämterzeitbegrenzung und mehr Mitbestimmung der Basis. „Wir müssen uns radikal demokratisieren“, sagt sie.Bei der Abgeordnetenhauswahl, die zeitgleich mit der Bundestagswahl stattfand, hat Katalin Gennburg ihren Wahlkreis nicht nur verteidigt. In absoluten Zahlen hat sie sogar 1.163 Stimmen hinzugewonnen. Und das „mit klarer Haltung und rebellischer Ansprache“, wie sie der Zeitung Neues Deutschland sagte. Der Frage, warum kaum noch Niedriglöhner und Hartz-IV-Bezieher die Linkspartei wählen, weicht sie aus. Sie sagt, es gebe „eine krasse Krise der Repräsentation“, die das Ergebnis allgemeiner kapitalistischer Verfallsprozesse sei. „Wir haben das erlebt, beim Haustürwahlkampf: Leute, die an nichts mehr glauben.“ Und Gennburg, woran glaubt sie? Ginge es nach ihr, würde die Linkspartei radikaler werden.Das ist Realpolitik, nicht radikalDerzeit führen beide Parteien, die Linke in Berlin wie die KPÖ in Graz, Gespräche mit Sozialdemokraten und Grünen. Mit dem Unterschied aber, dass in der Stadt an der Mur die Kommunisten eingeladen haben. Am 17. November soll die siegreiche Spitzenkandidatin Elke Kahr in der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats gewählt werden. Samuel Stuhlpfarrer bleibt dennoch zurückhaltend: „Nach allem, was bislang zu erfahren war, wird sich auch mit einer kommunistischen Bürgermeisterin strukturell wenig ändern.“ Von der ursprünglich geplanten Rekommunalisierung der in einer Holding ausgelagerten städtischen Betriebe habe man bereits Abstand genommen. Das Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen will die KPÖ vorerst auch nicht zurücknehmen. Ein Verbot, das sich in erster Linie gegen die „Sandler“ richtet, wie die Unbehausten in Österreich genannt werden. Und auch die „Ordnungswache“, die in polizeiähnlichen Uniformen die Verdrängung der Obdachlosen durchsetzt, wird bleiben. Aber es wird wohl mehr Sozialarbeiter geben und Notübernachtungsplätze, wie überhaupt mehr Sozialwohnungen gebaut werden sollen. Will heißen: Die Grazer KPÖ ist in ihrer Realpolitik also alles andere als radikal. Wie war dann dieser Wahlsieg möglich?Wenn zwei das Gleiche tun, muss es nicht dasselbe sein. Linkspartei und KPÖ haben im Wahlkampf die Wohnungspolitik zum Hauptschwerpunkt erklärt. Bei den Grazer Genossen ging die Rechnung (wie immer) auf. Nicht so in Berlin: Der am Wahlsonntag gleichzeitig zur Abstimmung stehende Volksentscheid für die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne in der Stadt bekam zwar eine breite Mehrheit, konkret: 1,04 Millionen Stimmen, was einem Anteil von 59,1 Prozent entspricht, doch auf dem beiliegenden Stimmzettel zur Abgeordnetenhauswahl wollten nur 14 Prozent (2016: 15,64 Prozent) ihr Kreuz bei der Linkspartei machen – der einzigen Partei, die diesen Volksentscheid umsetzen wollte. Katalin Gennburg sagt, dass es ohne den Volksentscheid und ohne die Anbindung ihrer Partei an die Mieterbewegung noch schlimmer gekommen wäre. Der Erfolg dieser Wahl sei es gewesen, dass die Berliner Linke halbwegs das alte Ergebnis halten konnte. „Wir haben so hart verloren in den alten Hochburgen in Marzahn und Lichtenberg, die immer wie natürliche Partner galten, dass es spannend ist zu fragen: Wieso konnten wir das an anderer Stelle ausgleichen?“ – Noch spannender aber scheint die Frage zu sein: Was macht die Grazer KPÖ anders?Die Publizistin Christa Zöchling, in den achtziger Jahren selbst Aktivistin im Kommunistischen Studentenverband (KSV), erklärte dieser Tage den Lesern der Zeitschrift Profil das „Wunder von Graz“. Hinter dem Sieg der Kommunisten, „einzigartig in der westlichen Hemisphäre“, stecke kein Geheimnis, sondern unbeirrbare Basisarbeit. Die KP gilt hier schon immer als „Kümmerer-Partei“.Und für manche ist sie immer noch die „Kaltenegger-Partei“: Der lange Zeit einzige KPÖ-Gemeinderat hat in den neunziger Jahren einen Mieternotruf aufgebaut. Das Wort von der Gentrifizierung kannte man da noch nicht. Doch von unzähligen Bürgergesprächen wusste er um die Wohnungsnot und davon, dass sich viele der schikanierten und oft sogar gekündigten Mieter keinen Anwalt leisten konnten, ja sich oft nicht einmal trauten, Widerspruch einzulegen. Die Telefonnummer vom Mieternotruf wurde stadtweit plakatiert. Der ursprüngliche Gedanke dabei war, so erinnert sich Ernest Kaltenegger: „Wir wollen die Menschen über ihre Rechte informieren und a bisserl ermutigen, sich zu wehren.“ Bald schon richtete die Grazer KPÖ eine „Rechtshilfe für Spekulantenopfer“ ein, finanziert von Kalteneggers monatlicher Diät als Gemeinderat – Geld, das aber so gut wie nie gebraucht wurde. Denn die klagenden Mieter, unter ihnen viele alte Menschen, waren im Recht und in den allermeisten Fällen bekamen sie ihr Recht auch von den Gerichten zugesprochen.Ein Badezimmer ist auch KulturUnd so geschah es: Bei den Rathauswahlen erlangte die Partei im Jahr 1998 mit 7,8 Prozent Fraktionsstärke; Ernest Kaltenegger wurde Stadtrat für Wohnungsbau. Über die Hälfte seiner Bezüge spendete er für soziale Zwecke und legte einmal pro Jahr am sogenannten Tag der offenen Konten Rechenschaft über die Verwendung ab. Freilich vermochte auch Kaltenegger keine Wunder zu vollbringen, aber er konnte deutlich soziale Akzente setzen. Als 2003 Graz Europäische Kulturhauptstadt werden sollte, war es „Ernesto“, der dafür sorgte, dass mit den EU-Geldern in den über hundert Substandardwohnungen, die der Stadt Graz gehörten, endlich Nasszellen eingebaut wurden. „Ein Bad für jede Gemeindewohnung. Auch das ist Kultur“, war sein Programm.Während andernorts in Österreich die rechtspopulistische FPÖ ihren Höhenflug erlebte, in Kärnten sogar mit Jörg Haider den Landeshauptmann stellte, mauserte sich ausgerechnet Graz, das noch in den achtziger Jahren einen freiheitlichen Bürgermeister hatte, zur KPÖ-Hochburg. Bei der Gemeinderatswahl 2003 wurden die Kommunisten mit 21 Prozent bereits die drittstärkste Fraktion im Stadtparlament. Zwei Jahre später gelang sogar der Einzug in den Landtag der Steiermark mit vier Mandaten! Anfangs habe man noch leicht abfällig von „Herz-Jesu-Kommunismus“ geredet, so Christa Zöchling. Oder von einer Augenblicksverwirrung der Grazer. „Doch der Augenblick zieht sich.“Doch worin liegt nun der zentrale Unterschied zur Schreibtischlinken in Berlin? Ist es womöglich die Utopie einer kommunistischen Gesellschaft? Zur Grazer KPÖ schreibt Zöchling: „Die Umwälzung der Verhältnisse, die Schwächung und am Ende Abschaffung des globalen Kapitalismus haben sie in ihrem Programm festgeschrieben; sie würden es auch niemals leugnen und doch erachten sie das als nicht relevant für ihre Alltagspolitik. Eher als eine weit entfernte Galaxie, auf der man auch einmal, irgendwann, landen möchte. Vergleichbar dem Kinderglauben eines Katholiken mit der Hoffnung, in den Himmel zu kommen.“Der eigentliche Unterschied liegt im Politikverständnis. Abgeordnete und Stadträte der steirischen KPÖ leben mit den Menschen, von denen sie gewählt wurden. Politikmachen als Synonym für Sozialarbeit. In ihrem Habitus und ihrem Lebensstandard haben sich die „Mandatare“ der KPÖ nicht Lichtjahre von ihrer Klientel entfernt. Wer auch immer in der Steiermark auf dem Ticket der Kommunisten gewählt wird, hat zwei Drittel seiner Bezüge abzugeben – und das nicht für die Parteikasse, sondern als Spende für soziale Zwecke. Politiker*innen der KPÖ bringen ihre Kinder in dieselben Schulen wie ihre Wähler, haben die gleichen Wohnungen, gehen in dieselben Wirtshäuser. Denn für den Nobelitaliener haben sie gar nicht das Geld, bei nur 1.900 Euro netto im Monat, was dem durchschnittlichen Facharbeitergehalt entspricht.Zurück in Berlin: Zum Abschied erzählt Katalin Gennburg, dass sie 2019 vor der Abstimmung zur Diätenerhöhung den Saal verlassen hat. Eine Gegenstimme hatte ihr die Fraktionsspitze nicht zugebilligt. Mitten in der Legislaturperiode hatten sich die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses ihre Bezüge um knapp 60 Prozent erhöht, von 3.944 auf 6.250 Euro im Monat. Allein die AfD hatte damals dagegen gestimmt.