Der Sozialismus in der DDR, sagt Dean Reed am Ende der Show, sei „der Sozialismus von alten weißen Männern“ gewesen. Der echte Dean Reed ist 1986 gestorben. Ist das authentisch? Außerdem: Durch die Brille der Critical Whiteness geschaut, verhielt sich der SED-Staat doch lange Zeit vorbildlich, indem er sich gegen Cultural Appropriation stemmte. Zitat Walter Ulbricht, 1965: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nur kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des je, je, je und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“ War eine schöne Zeit, nicht? Die Jugend tanzte den Lipsi, sang Arbeiterkampflieder oder lauschte den Liedern Lutz Jahodas, dem einzig wahren, wie man damals rief, „Zonen-Elvis“.
Sozialist mit Holzgitarre
Im neuen Stück der Neuköllner Oper in Berlin ist von Lutz Jahoda keine Rede. Die letzte Show des Iron Curtain Man ist einem anderen DDR-Sänger und -Schauspieler gewidmet: Dean Reed eben, der womöglich berühmteste Sozialist mit Holzgitarre. Geboren 1938 in Denver, Colorado, füllte Reed mit seiner Musik in den Sechzigerjahren in Chile und Argentinien ganze Stadien; in den Hitparaden dieser Länder ließ er tatsächlich Elvis hinter sich. In der Erinnerung vieler Chilenen dürfte noch seine Straßenperformance vom September 1970 sein, drei Jahre vor dem Militärputsch, als er vor dem US-Konsulat in Santiago mit einem Eimer Seifenwasser das Sternenbanner vom „Schmutz des Imperialismus“ reinwusch. Das war doch mal ‘ne Idee! Doch wenn es heute heißt, Dean Reed habe den Rock’n’Roll in den Ostblock gebracht, dann mag das für die Sowjetunion zutreffen, wo sich seine Platten millionenfach verkauft haben – in der DDR aber gab es bereits eine eigene Rockmusik-Szene. Die Klaus-Renft-Combo hatte keine Nachhilfe aus Übersee nötig.
Und wenn Dean Reed, wie derzeit in der Neuköllner Oper, als politischer Geisterfahrer dargestellt wird, bleibt der Umstand ausgeblendet, dass die DDR der frühen Siebzigerjahre, in die Reed übersiedelte, weil er sich unsterblich in das Model Wiebke Dorndeck verliebt hatte, ein gänzlich anderes Land war als noch in der Ulbricht-Ära.
Kleiner Exkurs in die DDR-Geschichte: Wenn es irgendwann eine Zeit gegeben hat, in der ein großer Teil der Bevölkerung zufrieden mit seinem Leben in diesem Staat war, dann waren es jene ersten Jahre der Honecker-Ära. Sein Machtantritt 1971 bescherte den Bürgern einen bis dato nicht gekannten Anstieg des materiellen Lebensniveaus. Zwischen 1970 und 1975 stieg der Anteil der Haushalte mit PKW von 15,6 auf 26,2 Prozent, mit Kühlschränken von 65,4 auf 84,7 Prozent und mit TV-Geräten von 69,1 auf 81,6 Prozent. Wie der Soziologe Detlef Pollack schreibt, hatte sich der Sozialismus „veralltäglicht“. Immer mehr Menschen erlebten ihn weder als Provisorium noch als Errungenschaft, sondern vielmehr als eine Selbstverständlichkeit. „Die SED ließ sogar einen größeren Freiraum für Privatheit und Individualität zu. Dass man zu Hause das Westfernsehen einschaltete, wurde ebenso stillschweigend geduldet wie die Orientierung insbesondere der jungen Generation an westlicher Mode, westlicher Rockmusik und westlichem Lebensstil. Öffentliche politische Bekenntnisse wurden nicht mehr verlangt. Sofern man nicht gesellschaftliche Führungspositionen anstrebte, reichte es aus, wenn man seinem Beruf nachging, die politischen Pflichtübungen (Maidemonstrationen, Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen, Wahlbeteiligung) absolvierte und sich ansonsten mit politischen Äußerungen zurückhielt.“
Er war kein Idiot oder Spinner
Der neue erste Mann setzte in seiner Politik tatsächlich moderne Akzente. Honecker sorgte für die Abschaffung des Paragraphen 218 und gleichzeitig dafür, dass die DDR, dank vieler sozialen Maßnahmen, ein geburtenfreudiges Land blieb. Die Freigabe der Pille brachte, so der Historiker Jörn Schüttrumpf, „die sexuell entspannteste Jugend in der deutschen Geschichte“ hervor, bis Ende der 1980er-Jahre auch in der DDR der AIDS-Virus ein Thema wurde. Die Weltfestspiele trugen 1973 frischen Wind, ja die weite Welt ins Land. Überall schöpften die Menschen Hoffnung auf mehr Wohlstand und Freizügigkeit. War der Alltag in den Fünfzigerjahren bisweilen noch geprägt von offenem Staatsterror, ging unter Honecker die politische Verfolgung spürbar zurück. In den Jahren von 1950 bis 1953 waren jährlich circa 11.000 bis 14.000 Menschen nach politischen Paragraphen verurteilt worden und zwischen 1965 und 1969 immerhin noch jährlich etwa 7.570 Personen – deren Zahl halbierte sich in der Honecker-Ära auf knapp 3.000 Menschen pro Jahr. Im Jahr 1972, als sich Dean Reed in der DDR niederließ, signalisierte die SED-Spitze dem westlichen Ausland mit der Paraphierung des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags, die Menschenrechte zukünftig achten zu wollen. Selbst in der Kulturpolitik überraschte Honecker mit einem Wandel: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.“
Sing, Cowboy
Mythos Einen „roten Elvis“ hat es in der DDR nie gegeben. Dean Cyril Reed, 1938 in Denver, Colorado, geboren und gestorben 1986 in Zeuthen, der US-amerikanische Schauspieler, Sänger, Drehbuchautor und Regisseur, der 1972 wegen der Liebe in die DDR übersiedelte, war in dem Land ein prominenter Künstler, aber kein Star, kein Manfred Krug. Zum Teenageridol wurde Dean Reed in Südamerika, dort hatte er mehr Fans als Elvis. Auch in der Sowjetunion hatte Reed in den 1980ern eine große Fangemeinde. Allerdings: Der Historiker Gerd Dietrich berichtet in seiner dreibändigen Kulturgeschichte der DDR von einer Country- und Westernszene. „Der entscheidende Durchbruch geschah 1971, als ein echter Amerikaner, revolutionärer Sozialist und Cowboy in der DDR zu Ruhm kam: Dean Reed.“ Dank solcher Filme wie Kit und Co (1974) – mit Dean Reed in der Hauptrolle, mit dabei auch Armin Müller-Stahl und Manfred Krug – seien die ostdeutschen Westernfans in der Lage gewesen, ihr Hobby politisch zu rechtfertigen. Sing, Cowboy, sing ist eine Westernkomödie von 1981. In den Achtzigerjahren entstanden dann etliche Cowboyklubs. Countrymusik und Cowboykultur galten nunmehr als das „Brauchtum des amerikanischen Landproletariats“. Yee-haw!
Will heißen: Als sich Dean Reed 1972 als Künstler für staatlich subventionierten Massenapplaus entschied, war er kein Idiot oder Spinner. Er sollte nicht der einzige sein, der von diesem Staat bitter enttäuscht wurde. Ihn, wie im Theaterstück geschehen, als „Elvis der DDR“ zu bezeichnen, einer Zuschreibung der Nachwendezeit, geht völlig in Ordnung. Theater braucht Dramatik, Fallhöhe. Der tiefe Sturz in den Zeuthener See, wo er starb, will erzählt werden, nicht nur berichtet. Regisseur Fabian Gerhardt macht das auch richtig gut, mit seinen sechs Darsteller*innen, von denen jede*r gefühlt mindestens einmal Dean Reed spielen darf. Wer ein Gefühl bekommen will, wie verlogen, provinziell und kitschig die DDR sein konnte, aber auch wie komisch, der sollte sich diesen Klamauk anschauen. Der Sound des VKKO, dem Verworner-Krause-Kammerorchester, ist großartig. Die Choreografie stimmt auch. Egon Krenz ist der beste Tänzer von allen.
Die Premiere war schon vor einem halben Jahr angekündigt. Und wie es scheint, hat die Corona-Pause dem Stück sogar gutgetan. Die fantastische Totenreise des Dean Reed verläuft bisweilen recht distanziert, und doch kommt er den Zuschauern nahe. „Kommunismus, Baby“, darum geht’s. Ohne Hüftschwung wird der Sozialismus nicht siegen. Und: „Ist die Sehnsucht groß, ist ein Lied nicht fern.“ Vor allem in der Sowjetunion hatte Dean Reed eine große Fangemeinde, und jeder Fan war ihm wichtig: „Jelena, ich singe jetzt ein Lied, das ich nur für dich geschrieben habe. Es heißt: Susanne.“ Der Ostblock, den der Cowboy aus Colorado rocken wollte, wird nicht dämonisiert und nicht verklärt, nur veralbert.
Am Ende bekommt Dean Reed sogar ein wenig Würde zurück, wenn er dem Publikum sagt: „Okay. Ihr könnt sagen, ihr habt gewonnen. Ihr könnt sagen: Die Zeit ist über ihn hinweggegangen. Der Sozialismus, von dem er gesungen hat, wo ist der heute? Auf dem Müllhaufen der Geschichte. Und okay, ich gebe gerne zu: Unser Sozialismus damals, das war nicht der beste Sozialismus, den man sich denken kann …“ Ein bisschen später dann der Hammersatz: „Denn erst wenn ihr den letzten Witz gemacht habt über meinen old fashioned Idealism, werdet ihr merken, dass der Kapitalismus eure Seelen gegessen hat und ihr Tote seid in einer toten Welt.“ – Mehr braucht Dean Reed gar nicht zu sagen. Was zur Hölle hat den Autor Lars Werner oder seinen Regisseur Fabian Gerhardt geritten, ihrem Helden solche Worte in den Mund zu legen, von wegen: „Sozialismus von alten weißen Männern“?! – Wenn es in der Geschichte der Popmusik ein Weißbrot gegeben hat, dann ja wohl Dean Reed! Seinen Freunden im Politbüro kann man heute sehr viel vorwerfen, aber Rassismus? Inwieweit bitte war der Charakter der SED-Diktatur durch die Hautfarbe der Parteiführung bestimmt? Einmal abgesehen davon, dass die SED weltweit die Befreiungsbewegungen unterstützt hat, zum Beispiel die SWAPO in Namibia oder den ANC in Südafrika. Lothar Bisky erzählte seiner Mitarbeiterin einmal: Als Nelson Mandela 1996 die Bundesrepublik besuchte, habe der beim offiziellen Empfang in Bonn das Protokoll verwirrt, mit der Frage, wer denn der Vertreter der SED-Nachfolgepartei sei. Jemand zeigte auf Bisky. Mandela ging hin und umarmte ihn.
Wie fremdenfeindlich die DDR-Gesellschaft mitunter sein konnte, etwa gegenüber den Vertragsarbeitern aus Vietnam und Kuba, ist bekannt. Darüber hinaus: Die DDR war ein Staat der alten Männer. Jedes weitere Attribut ist geschenkt.
Info
Iron Curtain Man Lars Werner, Fabian Gerhardt Neuköllner Oper, Berlin, bis zum 30. September
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