Vom Doktorvater

Lücke Unser Autor ist voll des Lobes für Gerd Dietrichs dreibändige „Kulturgeschichte der DDR“
Ausgabe 01/2019

Das Wichtige vorweg: „Wer seinen Lehrer nicht ehrt, ist schlechter als ein Hund“, sagte der Kulturhistoriker Gerd Dietrich vor vielen Jahren zu Ehren seines Doktorvaters namens Günter Benser. Wobei es sich um eine chinesische Weisheit gehandelt haben soll, die der Komponist Hanns Eisler 1954 bei einer Feier zu Ehren seines damals verfemten Lehrers Arnold Schönberg zum Besten gegeben hat. Ich schließe mich an. Gerd Dietrich ist mein Doktorvater, und wer seinen Lehrer nicht ehrt ... – dass man in China ein diametral anderes Verhältnis zum Canis lupus familiaris pflegt, das soll hier nicht interessieren. Auch nicht, dass der besagte Benser der letzte Direktor des Ostberliner Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung war.

Die DDR sei ausgeforscht

Gerd Dietrich, Jahrgang 1945, hat dieser Tage, wie er es nennt, sein „Alterswerk“ vorgelegt: Kulturgeschichte der DDR, drei Bände, insgesamt 2.429 Seiten. Im Vorwort schreibt der emeritierte Geschichtsprofessor der Humboldt-Universität zu Berlin, dass er sich fast vier Jahrzehnte in Forschung und Lehre mit der Materie auseinandergesetzt hat, um dann das Nachschlagewerk zu schreiben, das ihm immer gefehlt hatte. (Nicht nur ihm!) Den Entschluss dazu habe er gefasst, nachdem er 2009 die Deutsche Kulturgeschichte von Axel Schildt und Detlef Siegfried gelesen hat; eine fundierte Studie über die Jahre 1945 bis in unsere Gegenwart.

Es fehlte die DDR, eine Lücke, die nun fürs Erste geschlossen sein dürfte, mit einer Überblicksdarstellung, die den Verfasser in eine Reihe mit dem renommierten Heinrich August Winkler stellt. Ihm habe ich mehr oder weniger die Zusammenarbeit mit Gerd Dietrich zu verdanken; Winkler hatte mich seinerzeit an der HU der Sprechstunde verwiesen. Unser Gespräch dauerte keine zwei Minuten. Mitte der Nullerjahre war das, als ich meine Magisterarbeit bei ihm schreiben wollte, und Winkler sich leicht entsetzt zeigte, ob meines Themas: die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz im Sommer 1976. Das interessiere doch keinen, die DDR sei ausgeforscht, vor allem die Kirchen dort. Ich habe das dezidiert anders gesehen. Aus gutem Grund: Neben dem Studium hatte ich für die Berliner Zeitung einen Artikel über Brüsewitz geschrieben, woraufhin mir ein Kirchenmann steckte, dass im Magdeburger Archiv um die 80 Protestbriefe lagerten; Wortmeldungen „kleiner Leute“ gegen Staat und Kirche. Ein Glücksfall: Würde ich diesen Schatz heben, wären all die mittelmäßigen Hausarbeiten mit einem Schlag vergessen, denn nach damaliger Prüfungsordnung zählte beim Abschluss vor allem die Magisterarbeit. In anderthalb Jahren wäre die 30-jährige Sperrfrist aufgehoben und ich käme als Erster an dieses Material! Professor Winkler wollte davon nichts wissen. Ich möge mir ein anderes Thema suchen oder einen anderen Prof. Am Institut für Geschichtswissenschaften der HU gab es nur einen einzigen habilitierten Dozenten, der sich mit der DDR auseinandersetzte, und das war Gerd Dietrich, seines Zeichens außerplanmäßiger Professor.

Seine Seminare waren ständig überfüllt. Ein jeder brauchte einen Schein, musste eine Hausarbeit schreiben, einen Kurzvortrag halten. Gerd Dietrich teilte die Studierenden deshalb in Vortragsgruppen ein, wobei die Brüsewitz-Gruppe auf ein Fahrrad passte. „Dem jungen Mann ist doch bekannt, dass es in diesem Seminar um Kultur in der DDR geht?“ – „Kirche ist Kultur“, sagte ich ihm. – „Ja, Kirche ist Kultur …“

Gerd Dietrich erzählte die DDR nicht von ihrem Ende her, wie man es von der Stasiunterlagenbehörde kannte. Das unterscheidet den seriösen Historiker vom Geschichtenerzähler: dass er die Ereignisse zuerst in ihrer Zeit sieht; dass er den Widerspruch von Erzählzeit und erzählter Zeit aushält. Hätten die Menschen geahnt, wie kurzlebig dieser Staat ist, hätten sie sich anders verhalten; allein schon in dem Wissen, dass beim Umsturz kein Schuss fallen wird. In Gerd Dietrichs Vorlesungen war die Geschichte der DDR keine Abrechnung, aber auch keine Verklärung. Sein Credo war und ist das Diktum von Marx, dass die Menschen ihre Geschichte machen, jedoch nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Das bekannte Adorno-Aperçu, es gäbe kein richtiges Leben im falschen, stellt Gerd Dietrich infrage. Denn wir stecken doch dauernd im falschen Leben und müssen das Beste daraus machen. In der Vergangenheit war das nicht anders.

Ich lernte bei Dietrich, dass die DDR zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen ist; dass sie eine Diktatur war, aber nicht nur. Außerdem sagt man nicht „ehemalige DDR“. Mein Opa ist tot, aber ich rede nicht über meinen „ehemaligen Opa“. Und überhaupt all die Gesslerhüte: Im Kaiserreich haben die Herrschenden die Sozialdemokratie verfolgt, einen Genozid an den Hereros angerichtet und einen Weltkrieg verschuldet – dennoch reden wir nicht vom wilhelminischen Unrechtsstaat, weil das keine wissenschaftliche Kategorie ist, sondern ein Kampfbegriff. Historiker aber kämpfen nicht, sie klären auf. Was nicht heißen soll, dass Historiker unpolitisch sind oder immun gegen den Zeitgeist. Wie viel Gegenwart in der Geschichte steckt, ist eine Frage, die sich immer wieder stellt. Und auch das war früher nicht anders:

Will er einen Kaffee?

Gerd Dietrichs erste Doktorarbeit zur Gründungsgeschichte der SED wurde verboten, weil er angeblich das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus nicht richtig verstanden hatte; ein Revisionismus-Vorwurf, der 1956 schon gegen Georg Lukács erhoben wurde und sich buchstäblich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Linken zieht. Umso interessanter liest sich heute der „Besondere Deutsche Weg“ im ersten Band der Kulturgeschichte, über Anton Ackermanns Programmschriften zur Vereinigung von KPD und SPD. Ackermann, der nur in den ersten Jahren zum engeren Führungszirkel der SED gehörte, propagierte ursprünglich einen demokratischen Sozialismus ohne vorherige Diktatur des Proletariats. Inwieweit er damit noch auf Parteilinie lag und in Rufweite der Politik der Sowjetischen Militäradministration, ist bis heute Gegenstand der Diskussion.

Gerd Dietrich hat mein Denken geprägt, meine Sicht auf Geschichte als Teil unserer Wirklichkeit. Hin und wieder gehe ich ihn besuchen, in seinem hundert Jahre alten Haus in Petershagen bei Berlin. Und noch immer redet er mich in der dritten Person an. Es klingt eher wie ein alter Dialekt: „Schön, dass er die Zeit gefunden hat.“ „Hat er mir meine Bücher zurückgebracht?“ „Will er einen Kaffee?“ Von daher sehe ich mich außerstande, die Kulturgeschichte der DDR einer wissenschaftlich-seriösen Betrachtung zu unterziehen, denn selbstverständlich bin ich meinem Doktorvater gegenüber voreingenommen. Nur weiß ich eben, was drin steht. Seit etlichen Jahren schon greife ich auf das Manuskript zurück.

Das ist ja das Wunderbare an unserem Verhältnis: Normalerweise schreibt der Doktorvater von seinem Doktoranden ab, der dann seinen akademischen Grad aufbessern darf. Bei uns ist es umgekehrt: Ich habe mich immer bei Prof. Dietrich bedient. Wenn ich etwa einen Artikel über Wolf Biermann schreiben sollte, schickte er mir Material; ebenso, wenn ein Text zum Lyriker und Heiner-Müller-Regisseur B. K. Tragelehn anstand – kein Problem! Auf dem Gebiet der DDR-Kultur verfügte ich jahrelang über einen kleinen Wissensvorsprung, der nun leider dahin ist …

Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung könnte besser nicht sein. Die Forschung tritt gerade in eine neue Phase. Die offizielle Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit habe ihr Ziel verfehlt, so der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk unlängst in der Süddeutschen Zeitung. Hubertus Knabe ist desavouiert; ebenso etliche seiner Mitstreiter. Beim stockkonservativen Forschungsverbund SED-Staat hat man sich unlängst bis auf die Knochen blamiert. Die im Handbuch zu den Grenzopfern angegebene Zahl von 327 muss um mindestens 50 Fälle nach unten korrigiert werden – langsam wird es Zeit für eine Aufarbeitung der Aufarbeitung. Einen wichtigen Beitrag dazu hat Gerd Dietrich jetzt geliefert. Übrigens wurde Hanns Eisler seinerzeit gefragt, wo man denn das chinesische Sprichwort nachlesen könne – er hatte es frei erfunden.

Info

Kulturgeschichte der DDR Gerd Dietrich Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 2.429 S., 120 €

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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