1901: Majestätische Ruh’

Zeitgeschichte Nach dem Tod der „Kaiserin Friedrich“ ist für Berlin und ganz Preußen Landestrauer befohlen. Lauscht man in diese Stille, werden Erinnerungen an die Zukunft wach
Ausgabe 32/2020

Das 20. Jahrhundert begann, das wissen die Schlauen und Korrekten unter uns, nicht etwa 1900. Es begann 1901. Und in diesem ersten Jahr von langen hundert Jahren voller Wirren, Brüche, Grausamkeiten und „Taten fleischlich, blutig, unnatürlich“ (wie es im Hamlet heißt), geschah es, dass in Deutschland Ruhe herrschte. Eine von höchster Stelle angeordnete Auszeit. Der Verkehr lahmte. Theater waren geschlossen, Konzerthäuser leer, Tourneen wurden abgesagt und Events gecancelt. Tanzverbot. Kommt uns das bekannt vor? Das kommt uns irgendwie bekannt vor. Was war passiert?

Victoria, des regierenden deutschen Kaisers Mutter, die Witwe Friedrichs III., war gestorben. Man wusste lange, dass sie litt, dass sie krank war. Aber am ersten Augustwochenende 1901 wurde es öffentlich: Kaiserin Friedrich liegt im Sterben. „Kaiserin Friedrich“ – so ließ sich die im Buckingham Palace geborene Prinzessin von Großbritannien und Irland offiziell nennen, seit ihr Hohenzollerngemahl 1888, nach nur dreimonatiger Regentschaft, gestorben war. Sie ergab sich in die Rolle der Hinterbliebenen, pflichtschuldig, preußisch. Ihr ältester Sohn war dem 99-Tage-Regenten auf den Thron gefolgt und als Wilhelm II. in diesem Sommer 1901 bereits 13 Jahre deutscher Kaiser. Er würde, aber das ahnt zu dieser Zeit natürlich keiner, der letzte sein.

Jetzt eilt sie in den Taunus, die royale Familie, nach Cronberg auf die kaiserliche Residenz Friedrichshof, ans Sterbebett Victorias. Auch Verwandtschaft aus London reist an. Es steht schlecht um die 60-jährige Kranke. Am Montagabend, 5. August, stirbt sie.

Die Medien erstatten Hofbericht: „Mit leiser Hand hat die Parze den Lebensfaden der Kaiserlichen Dulderin durchschnitten“, erzählt seinen Lesern der Berliner Lokal-Anzeiger. Und der Börsen-Courier schreibt: „Weiße Lilien wurden ihr in die erstarrten Hände gegeben. Im Innersten erschüttert verließ die Familie das Sterbezimmer.“ Victorias Sohn erteilt noch am Todestag kaiser-königliche Ordre. „Ich bestimme, dass um die Verklärte eine mit dem morgigen Tage beginnende Landestrauer von sechs Wochen eintritt. Öffentliche Musik, Lustbarkeiten und Schauspielvorstellungen sind bis zum Ablauf des Tages der Beisetzungsfeier einzustellen.“

So ist es befohlen. So geschieht es. Ab Dienstagvormittag werden öffentliche oder zum Königshaus gehörende Gebäude in Preußen halbmast beflaggt. Städte, Schulen hissen die Trauerfahne. Kein Drehorgelspieler darf mehr orgeln, kein Bettler im Hinterhof singen. Die Berliner Schlosswache zieht ohne Musik auf und es fallen die täglichen Konzerte im Lustgarten aus. Nach einem Reglement aus dem Jahr 1797 läuten in den Kirchen des Landes die Glocken zwei Wochen lang jeden Mittag eine ganze Stunde. Wie sich der preußische Beamte zu kleiden hat, ist penibel vorgeschrieben: „Während der ersten vier Wochen der Landestrauer tragen die höheren Zivilbeamten zur Uniform beflorte Achselstücke bzw. Epauletten, Agraffe und Cordons, beflortes Portepée, Flor um den linken Oberarm, dunkle Beinkleider und schwarze Handschuhe; dagegen in den letzten zwei Wochen …“

Für den königlichen Hof gar gilt die Trauer ein Vierteljahr. „Die Damen tragen in den ersten sieben Wochen schwarze wollene hohe Kleider, Handschuhe von schwarzem Leder (nicht Glacé), schwarze Fächer und den Kopfputz von schwarzem Krepp.“ So weit, so schick, so wochenlang. Der scharfe Lockdown fürs Land aber gilt, wie gesagt, nur bis nach der Bestattung. Doch wann ist die? In ein paar Tagen? In zwei Wochen? Noch weiß es keiner. Vorläufig ruht einmal alles.

Nein, nicht alles. Nicht ruht die Kriegs-, die Kolonialmacht Deutschland. Mehr „Platz an der Sonne“ will das Wilhelminische Berlin in Asien und in Afrika, jetzt wie alle Tage. Trauer daheim? Geschenkt. Truppen kämpfen um Pacht-, erobern und verteidigen „Schutzgebiete“. In China hat das Deutsche Reich gerade im Verbund mit sieben anderen Staaten, darunter Frankreich, Russland, Großbritannien, eine libertäre Rebellion mordend, plündernd und vergewaltigend niedergemacht. Die chinesischen Kämpfer, von den Imperialisten „Boxer“ genannt, sind massakriert und in hoher Zahl getötet worden. Jetzt formulieren Gesandte der Siegermächte am „Boxerprotokoll“ herum, das schließlich im September unterzeichnet und China demütigen wird.

Doch heim ins Kaiserreich. Die Zeit steht still. Wie lange? Das fragt sich jeder. Vor allem fragen es Musiker, Artistinnen, Theater- und Zirkusdirektoren. Denn Anteilnahme kann kein Essen kaufen. Auch Sommerfrischler, Hotel- und Kurgäste wollen dringend wissen, wann endet das gelähmte Leben? Wir zahlen! Man hat uns Party versprochen! Jetzt hängt hier alles voll schwarzem Flor.

Ja, überhaupt, die tief empfundene Trauer! In unzähligen Beileidsadressen vorgetragen, hält sie sich hinter vorgehaltener Hand in Grenzen. Der Preuße verübelt der verstorbenen hohen Dame noch immer, dass sie aus England kam. Der später berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr beschreibt als Feuilletonist für die Königsberger Allgemeine Zeitung seine Berliner Wirtin aus Studentenzeiten: „Die Frau war sonst von friedlichem Charakter, und ich hatte niemals Exzesse an ihr bemerkt. Aber jetzt“, 1888, als Victoria Kaiserin ward, „legte sie los – mit einer verblüffenden Leidenschaft!“ Und wegen dieser Royal Princess nun steht alles still, und die Unterhaltungsbranche leidet. Man sucht sich, wo man kann, Wege aus der Not und geht auf Abstecher. Eine Kurkapelle aus Bad Kreuznach exiliert für einen Nachmittag ins nahe Bayern, konzertiert dort. Ein freies Theaterensemble, das sein Berliner Gastspiel abbrechen muss, weicht aus nach Dresden. Denn das Königreich Sachsen macht, wie die Bayern, nicht mit beim kaiserlichen Lockdown.

Kunstschaffende, denen solche Chance sich nicht bietet, trifft es hart. Sie zahlen die Trauerkosten. In Berlin stellen zumindest einige Chefs ihren Angestellten Entschädigung in Aussicht oder entschließen sich sogar, wie das Theater des Westens, Löhne fortzuzahlen. In der Provinz sieht es düster aus. Das Breslauer Neue Sommertheater telegrafiert an den Innenminister, wenigstens ernste Schauspiele aufführen zu dürfen. Die Antwort heißt nein. Am 8. August liest man im Berliner Lokal-Anzeiger, dass „Hunderte Bühnenmitglieder bereits brotlos“ geworden seien. Die Direktoren zahlloser kleiner Sommerbühnen sahen sich gezwungen, ihre Leute zu entlassen. Das dürfen sie, denn Landestrauer ist höhere Gewalt. Nein, das dürfen sie nicht, lautet das Gegenargument, weil die Betriebseinstellung eine verordnete ist, ohne „einen in der Person des Dienstverpflichteten (d. i. der Arbeitnehmer) liegenden Grund“. Ist er doch willens und in der Lage, seine Arbeit zu tun. Er darf nur nicht. Steht ihm also zu, volles Geld zu fordern? Über diese Frage wird gestritten. Am Ende liegt es an der Kulanz und am Vermögen der Theaterunternehmer, wie sie entscheiden. – Der gleiche Streit wird wieder geführt, fast wortgleich, mehr als hundert Jahre später, 2020.

Dann fällt die Entscheidung. Am 13. August findet in Potsdam die Beisetzung statt. Neben ihrem Gemahl wird Victoria im Mausoleum der Friedenskirche im Park Sanssouci bestattet. Das Leben kann wieder atmen. Das Vergnügen auch. Tänzer, Sängerinnen, Artisten tanzen, singen, jonglieren. Berlins Deutsches Theater zeigt am ersten Abend nach der Pause Hauptmanns Die Weber – das Stück, wegen dessen Uraufführung Wilhelm II. sieben Jahre zuvor dort seine Loge gekündigt hatte.

„Etwa 150 Chinakämpfer kamen Freitagabend auf dem Lehrter Bahnhof an und begaben sich in geschlossenem Zuge nach der Kaserne des Augusta-Regiments. Die mit der neuen Kriegs-Denkmünze geschmückten Soldaten trugen in den Händen dicke Bambusstöcke, zum Teil auch Lanzen oder Speere, die mit Haarschweifen versehen waren.“ (Berliner Börsen-Courier) Dem „Friedensprotokoll“, das die Sieger über den „Boxeraufstand“ inzwischen fertiggestellt haben, fehlt noch die Unterschrift der chinesischen Regierung. Sie wird in Kürze geleistet.

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