DDR-Professor löst Welträtsel um Schriftsteller-Pseudonym „B. Traven“
Zeitgeschichte 1961 In der „Neuen Deutschen Literatur“ erscheinen Texte von Rolf Recknagel, die darüber aufklären, um wen es sich bei dem Schriftsteller handelt, den alle Welt unter dem Pseudonym B. Traven kennt
Ret Marut 1923 in London. Für das Buch über ihn hatte sich der westdeutsche Journalist Gerd Heidemann im Osten bedient
Fotos: Imago Images, Wikimedia Commons (links)
Was für ein Ereignis. Welche Befreiung. Sie liest in einer Literaturzeitschrift, liest, und da steht’s! Es steht geschrieben, was der 50-Jährigen, seit sie denken und sprechen kann, verboten ist zu sagen. Das von der Mutter ihr mitgeteilte, seither aber auch nur mit der Mutter geteilte und bis zu diesem Tag heimlich durchs Leben getragene intime Wissen. Steht da. Gedruckt. Kann jeder lesen.
Irene Zielke lebt in Berlin, Hauptstadt der DDR, Leninallee 239. Sie greift einen Zettel und schreibt dem Autor sofort: „Bitte behandeln Sie das hier streng vertraulich! Ich bin Ret Maruts Tochter. Bitte witzeln Sie nicht im Stillen; meine Mutter u. ich wissen es seit eh und je. Endlich was darüber in unserer Presse. Wann können wir uns sprechen?“ Das Folgende versch
nde verschreibt sie, oder es gerät ihr vor Aufregung so unleserlich, dass es später falsch wiedergegeben wird: „Entschuldigen Sie Papier und Stift, habe eben im ND gelesen.“Nein. Nicht im Neuen Deutschland, in der Neuen Deutschen Literatur (ndl), Monatszeitschrift des DDR-Schriftstellerverbands, erscheint im Februar und März 1961 in zwei Folgen ein Artikel von Rolf Recknagel. Er führt umfang- und indizienreich den Beweis, dass der Schriftsteller, den alle Welt unter dem Pseudonym B. Traven kennt, in den 1910er und 1920er Jahren als Ret Marut (auch ein Fake) in Deutschland wohnte und agierte.Das Totenschiff, Der Schatz der Sierra Madre, Die Rebellion der Gehenkten, seit Traven 1925 debütierte, sind seine sozialkritischen Abenteuerromane Welterfolge. Auch in der DDR sind sie populär. Ihr Schöpfer aber lebt irgendwo in Mexiko, unerkannt. Selbst seine Verlage erreichen ihn nur unter Deckadressen und über wechselnde Postschließfächer. Wer ist der Mann? Er gibt sich nicht preis, hat keine Herkunft. Rare Spuren, die er der Öffentlichkeit hinstreut, sind falsch. Travens Inkognito ist inzwischen so berühmt wie sein Werk und für die Verlage von Beginn an ein „unique selling point“. Mag der Autor an einer Angststörung leiden oder die Sache einen sportlichen Aspekt für ihn haben. Auf jeden Fall ist sie ihm kunstwichtig. Biografie? „Wenn der Mensch in seinen Werken nicht zu erkennen ist, dann ist entweder der Mensch nichts wert oder seine Werke sind nichts wert. Darum sollte der schöpferische Mensch keine andere Biografie haben als seine Werke. In seinen Werken setzt er seine Persönlichkeit und sein Leben der Kritik aus.“Die Öffentlichkeit denkt anders. Sie will entscheiden, ob sie Künstler und Schaffen trennen mag oder nicht, und richten. Krude Mythen gedeihen, Verschwörungserzählungen werden kolportiert. „Goldgräber“ brechen auf, dem Anonymus sein Geheimnis zu stehlen. Es heißt, das US-amerikanische Magazin Life habe ein Traven-Kopfgeld ausgelobt. Aber dessen Identität bleibt verborgen und eins der „Welträtsel“ des 20. Jahrhunderts. Bis ein Fachschuldozent hinter dem Eisernen Vorhang, der ohne Aussicht auf Gewinn akribisch-besessen arbeitet, die Antwort auf eine zentrale Frage präsentiert: Wer war B. Traven, bevor er B. Traven wurde?Rolf Recknagel lehrt an der Leipziger Bibliothekar-Fachschule „Erich Weinert“. „Jahrein, jahraus spreche ich auch über das Werk B. Travens. Jahrein, jahraus rezitiere ich typische Passagen aus seinen Büchern.“ Mit Literatur zur Novemberrevolution befasst, stößt er auf den Ziegelbrenner, eine Münchner antimilitaristisch-provokante, schmale ziegelrote Zeitschrift, die nur an persönliche Besteller ging. Die ersten Hefte erschienen noch während des Weltkriegs, abenteuerlich an der verschärften Zensur vorbei. Herausgeber und alleiniger Autor – Ret Marut. Zur Sicherheit rät dieser, man liest es auf der Rückseite eines jeden Hefts: „Besuche wolle man unterlassen, es ist nie Jemand anzutreffen. Fernsprecher haben wir nicht.“ Recknagel bemerkt eine Nähe zwischen Ziegelbrenner-Texten und Traven-Romanen. Dem Schriftsteller und Freund Ret Maruts, Erich Mühsam, fiel dreißig Jahre zuvor bereits Ähnliches auf. Recknagel macht sich auf die Suche.Er findet im Neuen Theater-Almanach, einem Jahrbuch, das jede und jeden an deutschen Bühnen Tätigen auflistet, für die Spielzeit 1907/08 erstmals einen Ret Marut, Schauspieler ohne Engagement, erwähnt. 1909 spielt dieser dann in Sachsen am Theater Crimmitschau, wo auch Elfriede Zielke auf der Bühne steht. Die beiden werden ein Paar, wechseln ihre Engagements, die Städte. 1912 wird Irene geboren. Als das Mädchen zwei Jahre alt ist, trennen sich die Eltern. Irenes Mutter zieht fortan allein mit dem Kind von Bühne zu Bühne.Recknagel liest und vergleicht und verstrickt sich immer tiefer. Aber anders als andere sucht er den weltberühmten Unbekannten nicht unter der Sonne Mexikos, sondern in den Weiten seiner Werke: „In Gustav Freitags Lustspiel Die Journalisten spielte R. M. den Schreiber Korb. Der Journalist Schmock sagt in dem Stück: ‚Ich habe geschrieben links, und wieder rechts. Ich kann schreiben nach jeder Richtung.‘ Im Ziegelbrenner (Heft 5) schrieb R. M.: ‚Diese Kreaturen sind ja für jede Schandtat zu haben, sofern sie nur bezahlt werden. Sie schreiben links, sie schreiben rechts, sie schreiben sogar Gefühle.‘“ In der Münchner Räteregierung ist R. M. zuständig für Presse. Er geißelt später als B. Traven das Treiben bürgerlicher Medien. Wer sucht, der findet. Sogar einen Verweis auf die Textilstadt Crimmitschau: „Würde der Kleine nicht diesen entsetzlichen Matrosenanzug aus New Jersey oder Crimmitschau anhaben …“ (Die Brücke im Dschungel)Anna Seghers, die wahrscheinlich um das Geheimnis Traven/Marut schon lange weiß, gratuliertDer Schauspieler R. M. verschwindet 1915 in der Versenkung. Als Anarcho R. M. taucht er 1917 wieder auf. Er ist jetzt „Ziegelbrenner“ und wird 1919 Mitglied der Münchner Räteregierung. Als deren kurze Herrschaft brachial beendet wird, als die rechte Rache alle Linken, die sie zu fassen kriegt, totschlägt, gelingt R. M. die Flucht. „München ist eine sterbende Stadt.“ Ret Marut lässt Europa hinter sich, verschwindet endgültig. „Das neue Deutschland! Könnte ich doch nur ein Fremdstämmiger werden, um keine Blutsgemeinschaft mit diesem neuen Deutschland mehr zu besitzen.“ B. Traven erscheint in Mexiko.Rolf Recknagels Ret-Marut-Hypothese findet Anklang, auch im Ausland. Anna Seghers, die als Antifaschistin in Mexiko im Exil lebte und sehr wahrscheinlich um das Geheimnis Traven/Marut schon lange weiß, gratuliert. Dann zeigt sich ein eloquenter Herr, der westdeutsche Stern-Rechercheur Gerd Heidemann – der spätere Furore-Typ mit den Hitler-Tagebüchern! Weil gerade die Leipziger Messe stattfindet, lässt sich ein Besuch bei Recknagel ohne Aufsehen arrangieren. Und da Traven, wie es scheint, beide gleichermaßen begeistert, gibt Recknagel dem Gast bereitwillig Auskunft. Heidemann und seine Frau übernachten in Recknagels Haus, wo Fotos und Dokumente jahrelanger Recherche lagern. Naturgemäß hat der Reporter sein Fotoequipment dabei. Nachts, wenn alles schläft, auf leisen Sohlen, wird der Gauner fleißig.1967 verkündet die Zeit, Recknagel in keiner Zeile erwähnend: „Jetzt ist Traven gefunden. Der ,Stern‘-Reporter Gerd Heidemann suchte in der Schweiz, in Brasilien, in Mexiko, in den Vereinigten Staaten und Norwegen, interviewte über dreihundert Personen und stellte fest: Ret Marut, T. Torsvan und Hal Croves sind ein und dieselbe Person – der Schriftsteller B. Traven. Er stammt aus Deutschland und lebt heute, fünfundachtzigjährig, halb taub und fast blind in Mexico City, calle Mississippi 61.“1978 plant die DEFA einen Spielfilm mit dem schönen Titel Das Stadttheater Crimmitschau spielt Traven. Die Idee: Das Ensemble, auf dessen Bühne Ret Marut einst kurzzeitig agierte, entwickelt ein Traven-Stück, inmitten des DDR-Sozialismus. So debattieren die Darsteller etwa in der Werkhalle eines Crimmitschauer Textilkombinats, Münchner Räteregierung spielend, auf provisorisch gezimmerter Bühne: „Die Regierung hat nach wie vor alles in der Hand, Genossen! Wenn wir eine echte, nicht eine bayerische, eine echte Räterepublik gründen …“ „Echte! Wir sind eine echte Räterepublik!“ „Ein Nix bist du, ein Gar-Nix.“ „Du bist doch die Konterrevolution!“ „Draußen marschiert sie.“ Das Paar Joachim Seyppel/Tatjana Rilsky hat das Szenarium geschrieben. Regie führen soll Rainer Simon. Seyppel, 1973 in die DDR immigriert, und seine Frau reisen aber 1979 nach politischen Querelen (wieder) in den Westen aus. Seyppel veröffentlicht dort „republikfeindliche“ Artikel. Damit ist der Film für die DEFA gestorben.Autor Oskar Maria Graf, der Ret Marut persönlich kannte, liest Recknagels 1966 als Buch erscheinende Traven-Biografie. Er könne, schreibt Graf daraufhin, sich der Vorstellung nicht erwehren, Traven sei inzwischen verstorben, schaue jetzt vom Himmel mit einem Fernrohr zur Erde „und nehme den ameisenfleißigen Professor Recknagel auf Korn, ihn und sein hochgetürmtes, vielbebildertes Manuskript, um in ein zerberstendes Gelächter auszubrechen: ‚Armes Luder! Ist der Name wichtiger als meine Bücher? Oje, oje, und wenn ich jetzt doch ein anderer bin. Was dann?‘“
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