Ende 1981 war er da. Tauchte auf, verstörend wie ein Gerücht, ein seltener Krebs. Kaum ein Mediziner kannte ihn zu der Zeit. Er zeigte sich in Form braun-bläulicher Flecken und Tumorknoten auf der Haut und hatte in den USA eben noch gesunde homosexuelle Männer befallen: das Kaposi-Sarkom. Doch schien dieser Krebs die eigentliche Krankheit nur zu begleiten, anzuzeigen. Denn die Patienten, wenn sie starben – und das taten sie –, starben nicht an den Geschwüren. Sie starben, weil Bakterien, Pilze und Viren, auch solche, die den menschlichen Körper naturgemäß bevölkern, sich derart vermehrten, so stark und nicht beherrschbar, dass die davon ausgelösten „opportunistischen Krankheiten“, vor allem in der Lunge, den Körper schließlich zur Strecke brachten. Ein einstürzendes Immunsystem. Ein Sterben an vielen Leiden zugleich. Das war die neue Krankheit. Welcher Erreger löste sie aus? Wodurch wurde er übertragen? Kein Mensch wusste es. Nur eins: dass diese noch namenlose Seuche mit großer Sicherheit zum Tod führt.
Und immer weiter um sich griff. Ein halbes Jahr später waren in den USA bereits 150 Menschen, vor allem junge Schwule, an ihr – ja was, eingegangen, gestorben? Qualvoll verreckt waren sie. Und die Epidemie wuchs, wurde zur Pandemie. Sollte man Alarm schlagen? Vorerst blieb alles ruhig. – Vier Jähre später bereits war Aids die Todesursache Nummer eins von Männern zwischen 25 und 40 Jahren in New York City.
„Schreck von drüben“ hieß ein Bericht des Spiegel im Mai 1982; da waren in der BRD noch keine Aids-Fälle sicher diagnostiziert. Das Blatt mutmaßte aber – und handelte sich dafür Schelte ein –, wo in Deutschland die Pandemie ihre ersten Todesopfer fände: unter Schwulen in Westberlin. Und genau so kam es.
Mitten ins Herz
Schillerndes Westberlin. Die ummauerte Stadt war Anfang der 1980er, bestens subventioniert, Sehnsuchtsort für Wehrdienstflüchtlinge, Hausbesetzer, Antifa, Spontis, Studenten, Punks (der Freitag 13/2020). Auf diese Insel segelte, hierher nabelte sich ab, wem es in Westdeutschland zu eng, zu nazi, zu langweilig war. Also auch viele Schwule. Westberlin war die hedonistische Alternative zur Provinz. Das schwule Mekka.
Was man heute Gay Community nennt, hieß damals Sub, schwule Subkultur. Die war aus ihren Verstecken geschlüpft, nachdem 1969 der von den Nazis verschärfte Paragraf 175 endlich etwas gelockert worden war. Und feierte nun in der „besonderen politischen Einheit Westberlin“, die keine Polizeistunde kannte, Partys und ihre Existenz.
Jetzt konnten andere Geschichten erzählt werden als die alten, in denen der Homo, fünftes Rad am Wagen, immer unglücklich liebte und ein tragisches Ende nahm. Schwule waren nun laut, sichtbar, „out of the closet“, und nahmen sich Freiheiten. Sie gingen in Discos wie das Metropol am Nollendorfplatz. Ins junge SO 36 in Kreuzberg. Trafen sich in Kneipen zum Trinken, Tratschen. Oder in Saunen, Parks und auf Klappen für schnellen Sex. Es gab Stricher, Drogen, amerikanische Pornos, das linke Schwulenzentrum SchwuZ und seit Jahren Leute wie Rosa von Praunheim, die ihr Leben politisierten. Schwulsein, so ihre Botschaft, ist nicht privat, das bist nicht nur du, Mann, das sind viele. Äußere dich! 1979 hatte es den ersten, noch bescheidenen Christopher Street Day gegeben. Bei linken Demos lief ein Tunten-Block gleich hinter den Anarchos.
Es gab auch tatsächlich zu jener Zeit noch gut bezahlbaren Wohnraum in der Stadt. Viele lebten in WGs. Und schwirrten nachts ab in die Szene. Prüde sein? Monogam? Blödsinn. Rein ins Treiben! Würde es jemals enden? Nein. Diese Freiheit war zu schön, zu schwer erkämpft. Nie würde man sie aufgeben!
„Mit grün verfärbtem Gesicht, wachsbleichen Lippen, bleiernen Lidern, kurzem, stoßweisem Atem, von den geschwollenen Lymphknoten gemartert, lag er tief in seiner Matratze, als wollte er sich darin einschließen oder als riefe ihn ohne Unterlass eine Stimme aus der Tiefe der Erde. So erstickte der Mann unter einem unsichtbaren Gewicht.“ Albert Camus hatte in seinem Roman Die Pest das Krepieren an der alten, klassischen Pest beschrieben. Daraus zitierte man jetzt wieder. Denn eine neue Pest grassierte. Längst. Wo man heute an ihr starb, nistete sie seit Jahren; und wo man von ihr jetzt noch nichts spürte, wütete sie bereits.
Die Nachricht von der „Schwulenpest“ traf die Community ins Herz. „Wir waren verstört, panisch, hilflos“, erinnert sich Bernd Gaiser, Jahrgang 1945, der aus einem badischen Kaff zehn Jahre zuvor in die Inselstadt gekommen, jetzt manchmal als Daisy unterwegs, Buchhändler und in der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) aktiv war. „Was rollt da auf uns zu? Wir hatten keine Ahnung!“ Viele fragten sich: Hab ich’s schon? Bin ich infiziert? Noch gab es keine Chance, sich testen zu lassen.
Das allerdings änderte sich 1983. Ulrich Bienzle, Chef der kleinen, bescheidenen Westberliner „Landesimpfstelle“, ein Anlaufpunkt für Junkies, die sich dort impfen lassen konnten, begriff schnell, welches Unheil hereinbrach. Und entwickelte mit internationalen Partnern einen ersten Test. „Da sind wir hin“, erzählt Bernd Gaiser, „warteten dann eine Woche auf das Ergebnis. Eine schreckliche, lange Woche. Und jeder Dritte hatte es!“
Was machst du, wenn du erfährst, du wirst krank werden in ein oder zwei oder fünf Jahren – und dann ganz sicher sterben? Selbst schuld bist du ja auch noch, irgendwie. Oder? Lebst du in diesem angstgefüllten Vakuum weiter? Wie? Bringst du dich lieber gleich um? Fliehst du zurück in die alten Verstecke und Lügen?
In der Sauna, beim Sex, plötzlich
Die einen tun dies. Andere das andere. Manche begeben sich in „frei“ gewählte Isolation. Geben den Sex auf. Junge Leute. Viele Nichtinfizierte sogar, vor Schreck. Bernd Gaiser wacht plötzlich so auf: „Einmal war ich in einer Sauna. Mitten beim Sex, plötzlich dachte ich: Was tust du da? Was passiert hier gerade? Das war eine üble, verstörende Erfahrung. Die wollte ich nie wieder. Vorher hatte ich doch noch relativ unbekümmert gelebt, aber jetzt war das todernst. Danach reduzierte ich meine Sexkontakte auf ein Minimum. Saunen, Klappen, Parks, das hab ich für mich radikal eingestellt. Und das hat mich natürlich auch geschützt.“
Man wusste inzwischen, der Erreger ist ein Virus. Das hatte einen sperrigen Namen: humanes T-Zellen-Leukämie-Virus III (HTLV III). Erst ab 1986 hieß es HIV. Die Krankheit, die es auslöst, ist Aids. Und es gab keine Medizin gegen den Mist. Das Virus, so viel war klar, wird übertragen beim Sex schwuler Männer, hauptsächlich.
Stimmen, die sich christlich nannten, mahnten deswegen, es dürfe wohl jemand homosexuell sein, aber keinesfalls „es praktizieren“. Der „tadellos hygienische Mensch“ mit dem „sauberen Lebensweg“? Abgründe tun sich auf! Ja, Abgründe taten sich auf. Die auch damals schon entschlussfreudige bayrische CSU diskutierte unterm Beifall einer hetero-normativen Öffentlichkeit, wohin Schwule wegzusperren seien, damit das Virus nicht auf den gesunden Volkskörper (nun, diese Vokabel benutzte man nicht) übergriffe. Helgoland? Wurde ernsthaft erwogen.
Smart Distancing, wenn schon
Der Schriftsteller Ronald M. Schernikau schrieb 1986: „Ich erinnere mich an den Anfang der Aids-Diskussion; da hieß es, betroffen seien Personen, die sogenannten passiven Analverkehr machen, mehr als fünftausend Partner am Tag haben und sich ausschließlich von Drogen ernähren. Und dann flüsterte der sterbende Klaus Nomi plötzlich den rührenden Satz: Aber ich habe doch gar nichts gemacht. Damit war diese Theorie hinfällig. Auch dies eine Mal kann das entscheidende sein. Die einzig sichere Sexualität ist keine Sexualität.“ – Wir heute, jetzt, erleben: Alle Welt rät zu Social Distancing. Das Wort ist mein persönlicher Anwärter aufs Unwort 2020. Smart Distancing, wenn schon.
Es gab damals auch Leute, die wütend wurden. Wir lassen uns von einem dreckigen Virus nicht vorschreiben, wie wir zu leben haben! Schernikau schrieb: „wer jetzt aufhört zu ficken, sollte aufhörn zu rauchen trinken essen arbeiten autofahrn spraydosen benutzen lackfarbe plastik radios kinos menschen.“ Auch diese Reaktion war natürlich hysterisch.
Denn es gab ja immerhin Kondome. Wer die benutzte, konnte das Risiko, sich beim Sex anzustecken oder das Virus weiterzugeben, erheblich mindern. „Safer Sex“ war das neue Gebot. Es musste propagiert und auch wirklich gelebt werden. Übrigens nicht leicht für Gesundheitsministerin Rita Süßmuth (CDU), die den Schwulen in Sachen Aids von Anfang an zur Seite stand, ihrer Partei den Gebrauch von Kondomen schmackhaft zu machen. Was sagte der Papst dazu?
Der übrigen Gesellschaft musste vermittelt werden, dass Händeschütteln, Zusammenessen und eine Umarmung kein HIV übertragen. (HIV ist kein Corona.) Rosa von Praunheim trank in einer Talkshow demonstrativ mit Positiven aus einem Glas Wasser, um zu demonstrieren, dass es nicht nötig und für keinen gut ist, auf Abstand zu gehen. (Auch keine anderthalb Meter.)
Schrecklich war es für die Erkrankten, wenn ausgerechnet ihre Familien von ihnen abrückten. Aber auch das geschah. Sie konnten mit der „Schande“ nicht leben. Ließen ihre Söhne allein – und allein sterben.
Erst in den 1990ern kamen Medikamente gegen HIV auf den Markt. Heute ist die Therapie weit gereift. Noch immer ist es zwar nicht möglich, die Infektion zu heilen. Aber die Präparate hindern die Vermehrung der Viren im Körper, sie senken ihre Zahl auf ein Minimum. Seit Neuestem gibt es eine Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP). HIV-negative Menschen nehmen ein HIV-Medikament ein, um sich vor Ansteckung zu schützen.
Aids ist kein „schwules Problem“ mehr, sondern längst mitten in der Gesellschaft angekommen, bei Männern und Frauen. Seine schlimmsten Verheerungen aber hat es unter den Homosexuellen angerichtet, vor nicht so langer Zeit. Als die Kanzlerin in ihrer Corona-Ansprache ans Volk jetzt ein „Wir“ beschwor – „Seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt“ –, schlossen sich indessen um dieses „Wir“ wieder sehr alte Grenzen. Nicht Menschen mit Fluchterfahrungen gehörten noch dazu. Nicht die Schwulen mit ihrer Historie Aids.
Professor Ulrich Bienzle, der den ersten HIV-Test miterfand, ging 2006 in Pension; zwei Jahre später starb er. Ronald M. Schernikau starb 1991, 31-jährig, in Berlin an den Folgen von Aids. Bernd Gaiser lebt, 75 Jahre alt, in Berlin.
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