Mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“ steigt der Theaterolymp in die Unterwelt herab
Zeitgeschichte Deklassierte werden dargestellt in Maxim Gorkis Drama „Nachtasyl“. Mit großem Erfolg in Moskau. Und nur drei Wochen später, ebenso gefeiert, auch in Berlin
Ich war verabredet mit einem Freund nach einer Theateraufführung, die er sah, ich wartete vorm Hamburger Schauspielhaus. Es war Winter, und zu zeitig war ich eingetroffen. Es kam ein Zweiter. Er nahm am Boden Platz, zog einen Schuh aus, der in einer abgewetzten Aldi-Tüte verschwand. Nun war der Fuß nackt, und der Mann umwickelte ihn mit einer schmutzigen Binde. Er hängte sich etwas um den Leib, das einmal eine Strickjacke gewesen war, und pünktlich – besser als ich war er informiert, wann drinnen die Vorstellung endet – war er startklar. Die Kulturgenießer traten vom Foyer hinaus in die Nacht. Für den Mann begann die Arbeit. Er präsentierte, authentisch plus Make-up, den Zuschauern sein Leid: „Habt Erbarmen, liebe Menschen, helft!
!“ – Dies unlängst. Nun viel weiter zurück.Obdach-, Arbeits-, Heimatlose, Abgehängte, heillos Versoffene. Ende des 19. Jahrhunderts erzählt ein russischer Schriftsteller von solchen „gewesenen Menschen“, wie er sie nennt: Maxim Gorki. Er kennt sie aus der Nähe. Er ist mit ihnen umhergezogen. Die Geschichten, die er jetzt über sie schreibt, machen ihn schnell bekannt, weit über Russlands Grenzen hinaus.Ein anderer kennt sie auch. Der Journalist Wladimir Giljarowski kam 1881 aus der russischen Provinz nach Moskau, 28 Jahre alt. Er wird hier leben und schreiben bis zu seinem Tod 1935. Er verkehrt mit Künstlern, Wissenschaftlern, Kaufleuten ebenso wie mit Kriminellen und der Polizei. Er arbeitet als Lokalreporter. Er ist kein schmächtiger Intellektueller, er war schon im Zirkus tätig, er kann Eisenstangen biegen. Und er traut sich in die verrufenen Ecken der Stadt. So zum Chitrow-Markt, einem schmutzigen Platz im alten Moskau, wo Armut und Verbrechen hausen. Wo Marktfrauen Essen anbieten: „Heiße Leber und Milz! Fleischreste!“ Giljarowski schreibt: „Alle zwei- und dreistöckigen Häuser rund um den Platz waren voll von Nachtasylen, in denen bis zu zehntausend Menschen übernachteten auf engstem Raum.“ Viele nutzen diese Elendsquartiere seit Jahren, auch tagsüber, sie leben hier. Sie zahlen ein paar Kopeken Miete pro Tag. „Diese Häuser brachten ihren Besitzern riesigen Gewinn.“Und hierher führt Giljarowski nun – „man schrieb das Jahr 1902, das Moskauer Künstlertheater bereitete die Aufführung des Nachtasyls vor“ – die beiden Regisseure, den Bühnenbildner und einige Schauspieler der Uraufführungsinszenierung. Na dnje heißt Maxim Gorkis neues Drama: „Am Boden“, „Ganz unten“. Auf Deutsch wird es als Nachtasyl berühmt. Eine Obdachlosenunterkunft ist der Handlungsort des Stücks, da hausen die Figuren, zerlumpte Gestalten beiderlei Geschlechts.Wobei – Handlung? Davon gibt es nicht viel. Auf eine stringente Story hin hat Gorki das Stück nicht angelegt. Stattdessen breitet er Milieu aus, lose Szenen, Situationen. Es gibt Dialoge, die wie ein Vorgriff wirken auf Samuel Beckett. Dann wieder drängen Sätze ins Allgemeine, es wird philosophiert. Das Stück ist neuartig und, wie sein Erfolg zeigen wird, das richtige zur rechten Zeit.Anders als in Brechts Dreigroschenoper ein Vierteljahrhundert später, wo die Präsentation von Armut thematisiert wird: Bettler bekommen für ihre schlechte Kleidung schlechtere und werden als Krüppel ausstaffiert, um mehr Profit zu erwirtschaften für ihren „Bettlerkönig“ Peachum – im Nachtasyl sind Not und Gebrechen „echt“.Die Regisseure Konstantin Stanislawski – der über Gorkis Figuren sagt, man dürfe sie nicht spielen, man müsse sie leben – und Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko leiten das junge Moskauer Künstlertheater. Sie wollen radikal Neues. Schluss mit dem falschen Ton, hohlem Pathos, unechten Gefühlen auf der Bühne. Wahrheit in der Kunst, sowohl im ethischen als auch im handwerklichen Sinn, ist ihr Ziel. Sie hatten bereits Erfolg mit Tschechow-Stücken. Jetzt, da sie Gorkis Deklassierte darzustellen planen (Stanislawski spielt auch selbst mit), begeben sie sich auf Recherchetour. Sie wenden sich an Giljarowski, wollen „den Geist der Elendsbehausungen atmen“, und er führt die Künstler im August 1902 in eine Absteige am Chitrow-Markt. „Eine Bretterwand teilte das Nachtasyl in zwei Hälften. In der einen wohnten Bettler, in der anderen, geräumigeren, Stücke- und Rollenkopisten. Um einen schmutzigen Tisch mit einer verrußten Lampe saßen ihrer sieben und schrieben, barfuß und halbnackt, Tag und Nacht. Wenn sie ihr Geld bekamen, vertranken sie es noch am selben Tag. Darum hatten sie auch nichts anzuziehen und konnten nirgends hingehen.“ Natürlich ist der hohe Besuch eine Sensation im ganzen Haus. Man drängt heran, unterhält sich mit den Fremden, trinkt. Ein einstiger Offizier hält eine kleine Rede. Er lobt, schreibt Giljarowski, „dass wir vom Theaterolymp in die Unterwelt gestiegen seien, da wir und sie ein und derselben Sache dienten, der großen Kunst“. Der Bühnenbildner zeichnet. Einem Portraitierten gefällt nicht, wie er sich abgebildet sieht: „Warum hab ich eine schwarze Backe?“ Jemand sagt: „Das ist doch nur ein Schatten.“ „Ich werde ihm eins in die Fresse geben für den Schatten!“ Kurzzeitig wird die Lage prekär. Prügel bezieht am Ende aber niemand.Dass ein neues Stück von Gorki existiert, weiß man indessen auch in Deutschland. Max Reinhardt, der in Berlin neben anderen das Kleine Theater an der Friedrichstraße / Unter den Linden betreibt, will es herausbringen. Der Schriftsteller Arthur Kahane, Dramaturg der Aufführung, erinnert sich später: „Rasch entschlossen ließ man den lieben alten August Scholz, den unermüdlichen Übersetzer und Apostel Gorkis und der russischen Literatur, kommen, stattete ihn mit Geld und Pässen aus und schickte ihn nach Russland. Damals noch Volksschullehrer in Neukölln, musste er sich einen Urlaub erwirken und fuhr los. Mit der Parole auf den Weg: entweder mit dem unterschriebenen Vertrag zurück oder gar nicht. Natürlich kam er mit dem Vertrag.“ Scholz übersetzt fix. Die Proben können beginnen. Regie führt Richard Vallentin. Eine Figur spielt Vallentin selbst. Eine andere, den Vagabunden, Seelentröster, Menschenkenner und auch -täuscher Luka, Max Reinhardt. Den Dieb Pepel Eduard von Winterstein.Doch zunächst kommt das Stück, das es schwer hatte, die zaristische Zensur zu passieren, in Moskau auf die Bühne. Am 18. Dezember 1902 (des Julianischen Kalenders, es ist der 31. Dezember bei uns) wird Na dnje uraufgeführt und bringt Haus und Autor Lob und reiche Ernte. Es sichert dem Theater die Saison. Zur Premierenfeier spendiert Gorki dem Ensemble ein üppiges Souper. Ob die Kopisten am Chitrow-Markt vorab Rollen herausschrieben und den Text vervielfältigten, ist nicht überliefert.Kurz darauf, am 23. Januar 1903, folgt die deutsche Erstaufführung. Der Abend wird bei Publikum und Kritik „ein Erfolg, der immer mehr die Zeichen einer tosenden Kundgebung annahm“, wie man im Berliner Tageblatt liest. Die Berliner Morgenpost beschreibt das Werk als „Lied vom Schmutz und Elend, von der Gemeinheit und dem Verbrechen, das sich zu einem ergreifenden Gedicht von der Menschheit und Menschlichkeit wandelt“, nennt die Inszenierung ein „Meisterstück moderner Theaterkunst“. Das Stück läuft glänzend, nur ein Jahr später findet bereits die 300. Aufführung statt. Insgesamt wird das Nachtasyl am Kleinen Theater fast sechshundertmal gespielt.1906 unternimmt das Moskauer Künstlertheater eine Gastspielreise in zahlreiche Städte Deutschlands, nach Prag und Wien. 87 Personen reisen, es gibt 7 Bahnwaggons voll Dekorationen, Kostümen, Requisiten. Im Gepäck auch Na dnje.Nachtasyl wird in der Folge zum Klassiker. Dass die deutsche Zensurbehörde eine Aufführung 1916, als man im Krieg mit Russland steht, gestattet, so erinnert sich später Gustav von Wangenheim, der als Schauspieler an dieser Inszenierung beteiligt ist, hat einen einfachen Grund. Zeigt es doch den Russen als unkultiviert, als Auswurf und wo sein Platz ist: ganz unten.
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