Am frühen Vormittag kommt ein Zug an. Die Stadt, in der er hält, ist nicht näher bezeichnet, doch es kann keine Metropole sein, einmal heißt es von ihr, es gebe nur zwei Hauptstraßen. Schreiend laut ist das Treiben in den Straßen, Rushhour. Heimlich-unheimlich leise dagegen schleicht der Zug unters Bahnhofsdach. Es ist ein Sonderzug, „an dessen Ende dunkel ein blauer Salonwagen schimmert“. Und er bringt den obersten Befehlshaber der Roten Armee. Doch seltsam. So lautlos diese Ankunft hier, so lauthals rufen die Zeitungsjungen draußen: „Ankunft des Oberkommandierenden Gawrilow! Der Oberkommandierende erkrankt!“ Wieso diese Öffentlichkeit, warum das Geschrei? Etwas stimmt nicht. – Die Geschichte vom nichtausgelöschten
Moskau 1926: Der Schriftsteller Boris Pilnjak erzählt vom jähen Tod eines Helden
Zeitgeschichte Die „Geschichte vom nichtausgelöschten Mond“ erregt in der Sowjetunion nicht nur die Gemüter, sondern die politischen Geister. Bezüge zum überraschenden Tod des Volkskommisars Michail Frunse sind allzu offensichtlich

Tuschzeichnung von Boris Pilnjak aus dem Jahr 1924 und Michail Frunse als Kommandeur der Roten Armee 1919
Zeichnung: Juri Pawlowitsch Annenkow/AKG-Images, Foto: Tass/dpa
sgelöschten Mond spielt in der Sowjetunion im Herbst 1925. Ihr Autor ist Boris Pilnjak (s. Freitag 26/2017). Es ist die Chronik eines angekündigten Todes.1925 heißt der Chef der UdSSR-Streitkräfte in Wahrheit nicht Gawrilow, sondern Michail Frunse; so viel Erfindung muss sein. Der Rest der Erzählung indessen nimmt Leben und Sterben Frunses dreist zur Vorlage. Der Marschall war im Bürgerkrieg zum Militär gereift. Auf der Krim schlug er die Weißen. Er siegte in der Ukraine. Stieg auf bis ins Politbüro. Als Partei-Generalsekretär Josef Stalin 1924 seinen ärgsten Rivalen Lew Trotzki, den amtierenden Chef über Heer und Marine, schwächen wollte, stellte er ihm Frunse zur Seite. Im Januar 1925 übernahm dieser dann Trotzkis Amt ganz und gar. „Seither ist er gern“, liest man in einer Königsberger Zeitung damals, „mit temperamentvollen, urwüchsigen Kriegsreden hervorgetreten.“ Kaum ist Frunse, beliebt bei den Soldaten, an die Machtspitze vorgedrungen, gerät er in Opposition zu Stalin. Dem die vom Bürgerkrieg geschulten, im Bürgerkrieg mächtig gewordenen Militärs und Haudegen sowieso allesamt zuwider sind.„Das also war der Mann“, heißt es bei Pilnjak über Gawrilow, „dessen Name vom Heldentum des Bürgerkriegs kündete, der über Menschen, Siege und den Tod befand, Siege, die mit Hunderten von roten Fahnen und vieltausendköpfigen Menschenmassen im Hinterland lärmten und die als Radionachrichten den Erdball umflogen, Siege, nach denen tiefe Gruben für die Leichen in den sandigen russischen Feldern ausgehoben wurden.“ Da sind sie wieder: Lärm und Stille.Um die Macht gekämpft wird im Kreml seit Lenins Tod Anfang 1924. Wer beerbt den Führer der Revolution? Auf der einen Seite agiert Trotzki, Günstling des Verstorbenen. Gegen ihn steht eine Parteiführungs-Troika: Stalin, Sinowjew, Kamenew. Die drei hatten bereits während Lenins Krankheit kommissarisch regiert. Doch nun, wer reißt das Steuer an sich? Es folgt Schlag auf Gegenschlag, vier Jahre lang und vernehmbar im ganzen Land. Erst Ende 1927 wird die Frage endgültig entschieden sein. Trotzki wird man aus der Partei ausgeschlossen, Stalin sich als alleiniger Herrscher installiert haben. Kamenew und Sinowjew werden später, 1936, im ersten Schauprozess des „Großen Terrors“ als Feinde verurteilt und erschossen werden. Trotzki, ausgebürgert und verbannt, wird der Mord in seinem Mexiko-Exil 1940 ereilen. So steht es in den Geschichtsbüchern, das ist die Zukunft. Doch noch ist der Ausgang offen, und kein Mensch kann aufs Ende blicken.StaatsbegräbnisOder? Einige vermögen und riskieren immerhin, angstfrei aufs Jetzt zu schauen und so in den Erscheinungen Wesentliches, womöglich Zukünftiges zu erkennen. Die berühmten Zeichen der Zeit. Und da, plötzlich, geschieht etwas. Es fällt vor – aus der Zukunft vor die Füße der Lebenden. Eine Begebenheit wie ein Zeichen.Aus „höchsten Kreisen“, heißt es, wurden Pilnjak Details zugetragen über den Tod des Volkskommissars Frunse. Er hatte an einem Zwölffingerdarmgeschwür gelitten, das war abgeheilt, nun fühlt er sich genesen. Doch das Politbüro entscheidet, und Stalin besteht darauf: Du musst dich operieren lassen! Frunse sträubt sich. „Lachhaft, dass ich ins Krankenhaus gehe, dass ich an eine Operation nur denke!“, schreibt er seiner Frau. Aber Parteidisziplin steht höher als Bauchgefühl und Menschenverstand. Also begibt er sich unters Messer. Man betäubt ihn mit Chloroform, das er nicht verträgt und das lange keine Wirkung zeigt. – „Bereits seit siebenundzwanzig Minuten bemühte man sich, Gawrilow einzuschläfern. ‚Vielleicht sollte man das Chloroform absetzen und es mit Äther versuchen?‘ Der Narkotiseur aber goss Chloroform nach. In der achtundvierzigsten Minute schlief Gawrilow endlich ein.“Marschall Frunse stirbt am Samstag, 31. Oktober 1925. Der Berliner Ost-Express, ein Medium für in Deutschland lebende Russen, schreibt am 2. November: „Auf den Tod des Volkskommissars war man in Moskau bereits vorbereitet. Schon die Morgenausgaben der Sowjetblätter am Sonnabend hatten ein ärztliches Bulletin veröffentlicht, aus welchem die ernste Besorgnis der behandelnden Ärzte sprach. Kurz nach Erscheinen des Bulletins sanken die roten Fahnen auf den Regierungsgebäuden und Kasernen auf Halbmast und die Hauptstadt des Sowjetbundes legte Trauer an.“ Am 3. November wird Frunse an der Moskauer Kremlmauer beigesetzt in einem Einzelgrab. Hohe Ehre. Stalin selbst hält, auf dem (noch) hölzernen Lenin-Mausoleum stehend, die Totenrede. „Genossen! Ich bin nicht imstande, lange zu sprechen, meine seelische Verfassung lässt es nicht zu.“ Frunses Heimatstadt trägt fortan seinen Namen, eine Metrostation in Moskau wird nach ihm benannt.Boris Pilnjak, Jahrgang 1894, war 1922 mit seinem Roman Das nackte Jahr bekannt geworden. Sein Stil: Montage von Fiktion und Dokument, polyphone Strukturen, es kämpfen Gegensätze, streiten die Meinungen. Russland. Revolution. Schneesturm. Europa und Asien. Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond erscheint im Mai 1926 in Heft 5 der Zeitschrift Nowy Mir und ist erstaunlich linear gestaltet. Es ist die Erzählung eines Abschieds. Der offene Kampf ist vorüber. Die Fronten sind kaschiert. Im Haus Nr. 1 residiert und arbeitet der „Unbeugsame“. „Über diesem Haus lag lautlose Stille … auf dem Tisch im Arbeitszimmer, auf rotem Tuch, standen drei Telefone, die drei Arterien der Stadt.“ Pilnjak erklärt in einer Vorbemerkung, seine Erzählung habe nichts mit Volkskommissar Frunse, nichts mit dessen Leben und Tod zu tun. Er widmet das Werk Alexander Woronski, einem Literaturkritiker und Herausgeber, der dafür streitet, bürgerliches Kulturerbe nicht samt und sonders auf den Müll zu werfen.Die Lage bleibt brandgefährlichNowy Mir 5/26 wird unmittelbar nach Erscheinen konfisziert. Postbotinnen schwärmen aus, bereits den Abonnenten zugestellte Hefte zurückzuholen. In der Juni-Ausgabe der Zeitschrift dann ein Brief Woronskis, der Pilnjaks Widmung „mit Empörung“ zurückweist, da sie „für mich als Kommunisten in höchstem Maß beleidigend ist und einen Schatten auf meinen Parteinamen werfen könnte“. Auch die Redaktion (die den Text natürlich vorher diskutiert und für gut befunden hatte) beeilt sich, die Veröffentlichung „für einen eindeutigen und groben Fehler“ zu halten. Im November folgt ein Brief Pilnjaks, in dem auch er seinen „Fehler“ bereut und mitteilt, dass „viel von dem, was ich in der Erzählung geschrieben habe, verleumderische Erfindungen sind“. Alle versuchen, ihren Kopf noch einmal aus der Schlinge zu ziehen. Sie bleiben im Übrigen befreundet. Das Verlautbarte ist nicht, was sie denken. Aber die Lage bleibt brandgefährlich. Woronski schreibt an Maxim Gorki: „Seit Pilnjaks Erzählung ist mein Verhältnis zu einigen Personen in höchsten Kreisen recht gespannt. Mir wird vorgeworfen, Pilnjak inspiriert zu haben. Es ist wahr, dass er einiges von mir erfuhr …“ Eine Dekade später, am 13. August 1937, wird Woronski vor Gericht gestellt und wohl noch am selben Tag erschossen.Boris Pilnjak ist bis dahin weiter als Schriftsteller tätig. Er reist viel, innerhalb der UdSSR und ins Ausland. Sein Blick ist scharf. Er schreibt Reportagen. Die Erzählung Mahagoni erscheint 1929 in Berlin, also im feindlichen Ausland, und eröffnet eine nächste Hetzjagd gegen ihn. Dennoch ist er Delegierter beim Schriftstellerkongress 1936, wird sogar ins Präsidium gewählt. Er ist Besitzer einer Datscha in Peredelkino, der Moskauer Vorortsiedlung, wo Künstler ihre Ferienhäuser haben.In der Nacht vor der Operation unternehmen Gawrilow und sein bester Kumpel in einem offenen Zweisitzer, hundert PS, eine rasende Autofahrt. Gawrilow steuert. „Der Wagen zerriss den Raum, scheuchte die Zeit, den Nebel, die Dörfer. Katen stürzten wie Schafe beiseite. Luft und Wind verloren den Verstand.“ Ein letztes Mal das Leben spüren, wild sein, gefährlich, jung! – Boris Pilnjak wird am 21. April 1938 als „Trotzkist, japanischer Spion und Vaterlandsverräter“ verurteilt und erschossen. Seine Geschichte vom nichtausgelöschten Mond überlebt und kursiert seit Ende der 1950er in heimlichen Abschriften. Erst 1976, beinahe vierzig Jahre nach seinem Tod, erscheint in der Sowjetunion eine erste Auswahl seiner Werke.