Ihr Grab liegt auf dem Friedhof der kleinen Ortschaft Cholsey, südlich von Oxford. Man stellt sich vor, wie Mr. Stringer, Miss Marples treuer Sidekick, hier gleich um die Ecke biegt wie im fiktiven St. Mary Mead. Beschaulich ist es dort, und hinter einem Vorhang sitzt eine Lady namens Miss Marple, späht nach draußen und traut dem Frieden nicht.
Die bedeutende Publizistin Barbara Sichtermann – lange hatte man nichts mehr von ihr gehört – hat sich in das Leben der Queen of Crime, geboren 1890, gestorben 1976, versenkt und eine Biografie geschrieben. Passagenweise wird die über fiktive Gespräche erzählt, womit sie die unverwechselbare, subtil-unheimliche Atmosphäre vom herannahenden Bösen unter der Sonne herbeizitiert, die Agatha Christie über Dialogfetzen und harmloses Geplänkel zu entfalten vermochte. Sichtermann gelingt damit auch en passant, Christies literarisches Prinzip zu veranschaulichen. So lässt sie die Schriftstellerin ihre neue Protagonistin charakterisieren: Jane Marple sei „kein Profi wie Poirot, nur eine schwatzhafte alleinstehende Person mit grauen Haaren und scharfen Augen“. Wir kennen das Werk der Christie ja nicht zuletzt über die Verfilmungen: dass diese Jane Marple in 6 Uhr 50 ab Paddington (1961) dann von Margret Rutherford gespielt wurde, missfiel Christie, „ihre Miss Marple war schlank, fast zart und eher verhalten, Rutherfords Marple dagegen laut und temperamentvoll, ein dröhnendes Schlachtschiff ...“ Das Publikum verliebte sich in sie und auch in den herrlichen Mr. Stringer, der aber – anders als Sir Arthur Hastings, Hercule Poirots Freund – eine Erfindung der Drehbuchschreiber war. Christies Verhältnis zum Film, schreibt Sichtermann, war distanziert, sie zog das Theater vor. Erst Billy Wilders Meisterwerk Zeugin der Anklage (1957) änderte ihre Einstellung. Kurz habe sie sogar damit geliebäugelt, ein Drehbuch zu schreiben. Ihr Agent Cork riet ab. Ob sich Hitchcock und Christie einmal begegneten? Von Hitchcock ist tatsächlich in Sichtermanns Buch nicht die Rede, und man kriegt Lust, hier weiterzuforschen.
Auf dem Grabstein steht: Agatha Mallowan. Christie hatte zeitweise in der Nähe gewohnt, im Winterbrook House in Oxfordshire, einem bescheidenen Anwesen, ganz anders als das spektakuläre Greenway. Wenig bekannt ist, dass die zum Ende des 20. Jahrhunderts „umsatzstärkste Autorin der Welt nach Shakespeare und der Bibel“ leidenschaftlich gern Immobilien sammelte. Ihre Landsitze und Herrenhäuser dienten nicht nur als Kulisse für ihre Romane – Christie liebte es auch, ihre Häuser umzubauen, zu sanieren und neu einzurichten.
Als Single unterwegs
Mallowan hieß ihr zweiter Ehemann Max, ein britischer Archäologe. Christie hatte ihn auf ihrer zweiten Orientreise kennengelernt. Max arbeitete da noch im Team von Leonard Wooley, der als einer der ersten modernen Archäologen galt, dem es nicht mehr nur um spektakuläre Funde ging und der von 1922 bis 1934 die Ausgrabungen im Zweistromland, bei den Königsgräbern in Ur, leitete. Als die beiden sich kennenlernten, war Christie 40 und geschieden. Sie war außerdem 14 Jahre älter und gewissermaßen als Single unterwegs, nicht etwa auf einer guten alten Bildungsreise oder auf Marketingtour für das British Empire durch Südafrika, Australien, Neuseeland und Kanada, die sie als Begleitung ihres ersten Mannes Archibald Christie unternommen hatte, nein – Christie war auf Recherchereise (für den Orient-Express mit Hercule Poirot). Zwar lag im Jahr 1930 die Viktorianische Epoche mit all ihren Konventionen längst in Schutt und Asche, aber eine Heirat der da schon berühmten Christie mit einem viel jüngeren Mann (dessen Ausgrabungen sie später mitfinanzierte) war dann doch genug Futter für die Yellow Press. Obwohl: Eine spektakulärere Geschichte als die ihres eigenen mysteriösen Verschwindens ein paar Jahre zuvor hätte Christie, die zeitlebens die Öffentlichkeit scheute, kaum liefern können. Bei der Heirat gaben Agatha und Max ihr Alter dennoch vorsichtshalber falsch an, er 26, sie 30.
„Im Dezember des Jahres 1926 kannte die englische Boulevardpresse nur ein Thema: die verschwundene Lady. Eine 36-jährige Dame ist von ihrem Haus in Sunningdale, südwestlich von London, mit dem Auto aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Die Familie gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei startet eine Suchaktion – vergebens. Man findet den Morris in einem Waldstück bei Guildford am Rande eines Steinbruchs, im Wagen eine Tasche und einen Ausweis, aber keine Spur der Fahrerin, nirgends. Die Zeitungen veröffentlichen Fotos, die Daily News setzt gar eine Belohnung für zielführende Hinweise aus, ohne Erfolg. Auch die Initiative der Evening News, die zu einer großen „Sonntagsjagd“bläst und die Anwohner nahe Guildford auffordert, Bluthunde mitzubringen, führt zu nichts. Die Lady blieb verschwunden. Elf Tage lang. Sie hieß Agatha Christie.“
So weit Barbara Sichtermann über dieses mysteriöse Verschwinden. Agatha Christie selbst sprach nie wieder über diese tollkühne, perfide Inszenierung, zu der sie fähig gewesen war; unter ihrem Pseudonym Mary Westmacott versucht sie in Das unvollendete Porträt (1934) eine literarische Verarbeitung. Barbara Sichtermann macht aber deutlich, dass im Prinzip alle Christie-Krimis von diesem Ereignis erzählen: wozu ganz normale Menschen fähig sind, wenn sie an einem Abgrund stehen. Und als hätte Christie ihn erfunden, erkannte sie schließlich der Pianist in dem Hotel, in dem sie abgestiegen war. Was für eine Farce und wo hatte ihr „Denkfehler“ gelegen? Im Jahr 1926 war der Schriftstellerin nicht klar, wie berühmt sie war. In London trug sie später Hüte mit großer Krempe und eine Sonnenbrille, um nicht erkannt zu werden.
Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin hatte sich nach diesem Skandal und der Krise notwendig ergeben, arbeitet Barbara Sichtermann heraus. Nach dem Tod ihrer geliebten Mutter Clara und der Trennung von ihrem Mann wurde das Schreiben zur Rettung und zum Beruf, war nicht mehr das Hobby einer Tochter aus gutem Hause und einer guten Ehefrau; sie trug beim Einchecken in Hotels jetzt nicht mehr als Beruf „Hausfrau“ ein. Christie hatte zudem zu liefern, hatte nun bei Collins unterschrieben, nachdem ihr erster Verleger die Anfängerin noch mit einem Knebelvertrag gebunden hatte. Ihr Lebenswerk: 66 Kriminalromane, sechs Erzählungen unter ihrem Pseudonym, 21 Theaterstücke und eine riesige Anzahl von Kurzgeschichten.
Mehr Shakespeare als Freud
Erst durch die Lebenskrise wurde sie zum Profi, auch das arbeitet Sichtermann heraus. Christie macht das Kindermädchen ihrer Tochter zur Sekretärin, Carlo schreibt nun Typoskripte nach Diktat. Obwohl ihr Alter Ego die emanzipierte Ariadne Oliver ist und auch wenn in ihren Krimis längst moderne Frauenfiguren auftraten und sie „mit der Zeit ging“ und später Noam Chomsky, Herbert Marcuse, Frantz Fanon las, blieb ihr Rollenverständnis konservativ. „Politik interessierte sie nicht als aktuelles Gerangel um Macht, wohl aber als Geschichte. Und in der Geschichte fahndete sie nach der Macht der menschlichen Natur. Hierfür las sie Sigmund Freud, C. G. Jung und Ludwig Wittgenstein.“
Im Herzen war die Christie jedoch ein Kind der Viktorianischen Epoche geblieben, trotz aller psychologischen Raffinesse in ihren Romanen stammt ihr „Menschenbild von William Shakespeare, nicht von Sigmund Freud“, schreibt Sichtermann und zitiert aus Christies Autobiografie von 1977: „Ich sehe da eine große Dummheit von Frauen, ihre durch jahrhundertelange Zivilisation erreichte privilegierte Position aufzugeben. Die Frauen der Naturvölker unterziehen sich einer unablässigen harten Plackerei. Wir scheinen entschlossen, zu diesem Zustand freiwillig – oder indem wir uns dazu überreden lassen – zurückzukehren.“ Ein Snob war sie dennoch nicht, sie sah ihr Personal als Experten auf ihrem Gebiet, arbeitete im Krieg als Lazarettschwester, als Apothekenhelferin, konnte sich sogar vorstellen, diese Arbeit zu ihrem Beruf zu machen, lernte Steno und war auf den vielen Reisen bekannt dafür, mitnichten eine verzogene Mimose zu sein. Aber immer, wenn sich eine neue Schaffensperiode ankündigte: „ich benehme mich wohl wie Hunde es tun, wenn sie einen Knochen ergattert haben: Sie verkriechen sich und lassen sich eine Zeitlang nicht mehr sehen. Schuldbewusst und mit schmutziger Schnauze kommen sie zurück,“ zitiert Sichtermann aus Christies „äußerst lesenswerten“ Memoiren. Es waren letztlich die Männer, die ihr auch halfen, ihren Weg zu gehen, die sie unbewusst vor allem aus Liebe und einem Drang zur Selbstverwirklichung gewählt hatte. War sie eine Feministin? Eher nicht, aber, das zeigt Barbara Sichtermann, das ändert nichts an einem faszinierenden Leben und Werk.
Info
Agatha Christie – Eine Biografie Barbara Sichtermann Osburg Verlag, 300 S., 24 €
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