„Der Fremde ist zuerst gefährlich“

Interview Die deutschtürkischen Lebensrealitäten sind differenzierter als die mediale Debatte über sie, sagt der Psychologe Hacı-Halil Uslucan
Ausgabe 22/2018

Als die deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündoğan jüngst mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan posierten, war kurz mal wieder die Hölle los. Hacı-Halil Uslucan ist Migrationsforscher. Er findet es falsch, vorschnell von mangelnder Integriertheit der Zugewanderten zu sprechen.

der Freitag: Herr Uslucan, am 24. Juni sind in der Türkei Neuwahlen. Warum sind so viele Deutschtürken für Erdoğan?

Hacı-Halil Uslucan: Nun, es kommt auf die Berechnungsgrundlage an. Wenn man alle Türkeistämmigen ins Verhältnis setzt, die tatsächlich AKP wählten, liegt der Anteil um die 12, 13 Prozent. Wenn man aber nur die zählt, die zur Wahl gegangen sind, dann ist der Prozentsatz sehr hoch. Man sagt aber nicht: Die Integration der Türken, die zur Wahl gehen, ist gescheitert. Sondern: Die Intergration der Türken ist gescheitert.

Dennoch: AKP-Wähler sind in der Vergangenheit sehr martialisch aufgetreten. Spricht das nicht für eine kulturelle und politische Entfremdung von Deutschland?

Es ist kompliziert. Wenn man nach den Präferenzen für deutsche Parteien fragt, dann kommt etwas völlig anderes raus. Ein großer Teil der Wähler ist zwar konservativ orientiert …

… dann wäre eigentlich die CDU die Partei der Wahl …

... ist sie aber nicht. Wenn nur Türken in Deutschland wählen dürften, dann hätte Rot-Grün überhaupt keine Schwierigkeiten. Über 60 Prozent sind SPD-nah, 12 bis 13 Prozent neigen den Grünen zu, 11 Prozent sind Linke, die CDU spielt kaum eine Rolle, sie bekäme sechs, sieben Prozent. Selbst bei denen, die der AKP zuneigen. Der größere Teil wählt also SPD oder würde SPD wählen.

Interessant. Warum ist das so?

Diese Parteien machen eine bessere Integrationspolitik, auch wenn sie vielleicht „gottlos“ sind. Von christlichen Parteien geht eine viel stärkere Ausgrenzung aus. Aber da ist schon auch eine gewisse Schizophrenie bei den türkeistämmigen Wählern: Man wählt hinsichtlich der Türkei gesinnungsorientiert. Von der dortigen Lebenswirklichkeit ist man natürlich wenig betroffen. An die Türken in Deutschland gehen sehr widersprüchliche, ambivalente Signale. Ein Comedian hat das mal auf den Punkt gebracht: Sie stehen vor einem Club und der Türsteher sagt: „Du kommst hier nicht rein, aber du sollst tanzen lernen.“

Zur Person

Hacı-Halil Uslucan, Jahrgang 1965, kam mit acht Jahren aus der türkischen Provinz Kayseri nach Berlin. Er promovierte in Psychologie und leitet nun das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen, wo er zudem Moderne Türkeistudien lehrt

Foto: Jürgen Heinrich/Imago

Ausgrenzend äußern sich ja vor allem CSU-Politiker. Gefühlt klappt die Integration in Bayern aber am besten, oder?

Für die Integration sind verschiedene Faktoren entscheidend. Arbeitsmarkt, Wohnen, politische Partizipation. Die kulturelle Ebene, die soziale Ebene. Aber auch die Ebene der Identifikation. Also, wie stark sich Zuwanderer als Teil der Gesellschaft fühlen. Wenn man nun die verschiedenen Ebenen addiert, dann kann man sagen, in Süddeutschland haben bestimmte Aspekte besser funktioniert.

Wirtschaftlich …

Arbeit ist der erste Integrationsmotor für die Zuwanderer. Das Integrationsziel scheint sich einzulösen, sie haben ein besseres Leben. Das stärkt auch das Selbstwirksamkeitsgefühl und die Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn Sie mit diesen Menschen sozial wenig zu tun haben, wissen sie, der geht einer ordentlichen Arbeit nach, der trägt zum Gemeinwohl bei, der finanziert sein Leben selber. Dort, wo das nicht funktioniert, entstehen Neiddebatten. Wenn Zuwanderung als Belastung empfunden wird, sind diverse Ängste stärker.

Wie läuft es denn hier in Essen, wo Sie lehren?

Das ganze Ruhrgebiet ist ja migrantisch geprägt. Aber die polnische Zuwanderung etwa sehen sie ja nicht, oder nicht mehr. Es hat einen starken Strukturwandel gegeben. Unter Tage waren die Menschen gleich. Einige Regionen haben den Strukturwandel gut hingekriegt, andere nicht so gut – dort, wo nicht in den Dienstleistungssektor überführt werden konnte. Wo eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht.

Kaum thematisiert wird der Binnenrassismus in migrantischen Milieus. Wie stark ist der beispielsweise zwischen Arabern und Türken? Ist der mittelständische Türke, der seine Arbeit verloren hat, nicht genauso genervt von Kleinkriminalität durch Araber oder Albaner?

Es gibt dazu eine schöne Studie von einem Freund von mir. Über Muslim Gypsis, muslimische Zigeuner. Sie versammelt Beobachtungen aus Duisburg-Hochfeld, aus Marxloh, Regionen mit hohen Zuwandereranteil. Hier spielen die Deutschen kaum noch eine Rolle, die Etablierten sind die Türken. Irgendwann in den 90er Jahren sind die Bulgaren-Türken dazu gekommen. Da haben die Türken gesagt: Das sind keine richtigen Türken – sie haben auf sie herabgeschaut. Aber als dann die Roma kamen, waren die Bulgaren-Türken diejenigen, die gesagt haben: Wir wollen mit denen nichts zu tun haben, auch wenn die zum Teil aus Bulgarien oder Rumänien kommen. Die Strategie der Roma ist, sie werden nicht akzeptiert, dafür aber ihre islamische Identität. Deshalb bezeichnen sie sich als Muslime, nicht als Roma, eben: die Muslim Gipsys. Natürlich gibt es innerhalb der Zuwanderergesellschaft Diskriminierung. Das ist ein Klassiker der Soziologie. Denken Sie an das Buch von Norbert Elias Etablierte und Außenseiter. Es zeigt sehr schön wie Außenseiter, wenn dann neue Außenseiter kommen, sich als etabliert verstehen.

Wie in den 1960ern die Italiener.

Das waren die „Itaker“, gefürchtet, gefährlich, die Messerstecher.

Sie sind in Berlin aufgewachsen. Ziemlich ungewöhnlich war da noch, dass einer mit Migrationshintergrund Abitur machte. Noch ungewöhnlicher, dass Sie dann Literaturwissenschaft studierten. Wie kam das?

Im Türkischen gibt es drei klassische Aufsteigerberufe: Arzt, Anwalt, Ingenieur. Ich kann kein Blut sehen, Arzt kam also nicht in Frage. Für mich war klar, ich würde Ingenieur werden. Ich hatte schon eine Lehre als Maschinenschlosser angefangen, Ende der 1970er Jahre, als wir dachten, wir gehen in die Türkei zurück. Meinem Lehrer war aufgefallen, dass ich für einen „Ausländer“ – damals hat man noch nicht so unterschieden – sehr gut in Deutsch bin, was die Mitschüler auch in Rage brachte.

Nach dem Motto: Wie kann es sein, dass „der Ausländer“ die besten Noten bekommt?

Genau. Ich hatte Sinn für Literatur, Philosophie, Camus und so. Ich habe dann ein sehr gutes Abitur gemacht und Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaften zugleich studiert. Und für jedes Fach hatte ich einen Studienplatz bekommen. Es ging dann darum, einen Brotberuf zu erlernen, ich wollte eine bürgerliche Karriere. Psychologie war der bürgerliche Beruf.

Psychologe wurden Sie aber auch nicht, sondern einer der gefragtesten Integrationsforscher. Das sind Sie aber mehr nolens volens geworden.

Ja, mein Doktorvater hatte angeregt, etwas über die deutschen Philosophen in der Türkei zum machen. In der Nazizeit ist eine Vielzahl von Philosophen, Ärzten, Künstlern, Musikern ins Exil gegangen: Eduard Zuckmayr, Bruno Taut, Edzard Reuter, der große Literaturwissenschaftler Erich Auerbach. Einige sind geblieben. Das Thema war noch wenig aufgearbeitet. Eigentlich wollte ich nichts mit der Türkei machen. Aber da gab es nun einen enormen Bedarf für Psychologen mit migrantischem Hintergrund. Wartezeiten von sechs bis neun Monaten auf einen Therapieplatz sind die Regel.

Haben viele Muslime denn nicht Hemmungen, zum Psychotherapeuten zu gehen?

Das ändert sich gerade. Weil der Leidensdruck groß ist. Vieles lässt sich nicht mehr einfach mit einem Gebet oder spirituell beheben. Zudem hat sich das Image des Psychologen oder Psychiaters geändert. Früher hat man gesagt, das ist der „Irrenarzt“. Es ging um kognitive Störungen, heute nimmt man auch die emotionalen Belastungen in den Blick.

Was für Belastungen sind das?

Im Kontext von Migration und Integration gibt es eine Reihe von Traumata. Ich habe selbst als Einzelfallhelfer gearbeitet. Da sind die Familien, die Kinder in der Türkei gelassen haben. Die „Migrationswaisen“. Muttersprachliche Verständigung ist da sehr wichtig. Emotionale Erlebnisse sind oft in der Muttersprache abgespeichert.

Das Türkische hat dafür, hört man, so viele Redewendungen ...

Ja, zum Beispiel: „mir brennt die Leber“, ein deutscher Therapeut würde das vielleicht in ein Alkoholproblem übersetzen. Aber es ist Ausdruck tiefsten Leids. Diese Art der Schmerzbezeichnung ist sehr kulturspezifisch geprägt. Daher ist der Bedarf an muttersprachlichen Therapeuten, die den kulturellen Hintergrund kennen, enorm.

Ihr Institut hat zur Resilienz, zur psychischen Widerstandsfähigkeit von Kindern aus Zuwanderfamilien geforscht...

Ja, sonst redet man ja immer über die Defizite. Was die empirischen Werte betrifft, ist der Unterschied zwischen Migranten und Nichtmigranten nicht signifikant. Das ist interessant, weil es sonst oft heißt, Migranten haben weniger Selbstwertgefühl, das Selbstbild ist fragiler. Wo es in der Tat Unterschiede gibt, ist der soziale Hintergrund. Ob ein Kind aus einer armen oder reichen Familie kommt. Der soziale Gradient ist der stärkste Faktor, egal ob ein Kind aus einer türkischen, arabischen oder einer deutschen Familie kommt.

Was wirkt denn als Ressource?

Wir glauben, dass der stärkere Familialismus eine große Ressource ist. Das behütete Aufwachsen, die viel engeren Interaktionen in der Familie, die aus einer deutschen oder einer individualistischen Perspektive oft als restriktiv wahrgenommen werden. Für die Entwicklung des Kindes scheint das ein Protektivfaktor zu sein. Auch die Solidarität ist größer. Sie können unter muslimischen Familien zum Beispiel eher Geld leihen. Materielle Hilfen in Anspruch nehmen.

Trifft das Klischee zu, dass Zuwanderer gastfreundlicher sind?

Die Gastfreundschaft ist ja, wenn sie es kulturanthropologisch einordnen, eine Form der Konfliktbeschwichtigung. Der Fremde ist zunächst ja gefährlich, auch faszinierend, aber man kennt ihn nicht. Wie können Sie der ambivalenten Situation entgehen? Jemandem, mit dem sie zusammen das Brot gebrochen haben, haben Sie damit entwaffnet. Das ist eine kulturell kluge Einrichtung, den Krämergeist zurückzustellen und in Vorleistung zu treten.

Warum funktioniert das in Deutschland nicht so?

Man ist hier berechnender. Petra zahlt ihr Bier, Klaus zahlt seins – die Türken kloppen sich im Lokal fast, wer bezahlt. Ganz latent ist natürlich auch in der Türkei ein Moment der Berechnung. Aber die Reziprozität ist einfach schnell da. Wo sie in Vorleistung gehen, sind die anderen im Schuldverhältnis zu ihnen. Das nächste Mal wird sich ein anderer drum reißen, so dass das System auf lange Sicht eher ein tragendes ist.

Werden die Deutschtürken die Deutschlandfahnen raushängen, wenn Özil oder Gündoğan bei der WM ein Tor schießen?

Natürlich hängen Türken auch die Deutschlandfahnen raus. Schließlich ist ja die Türkei bei der WM nicht dabei; da ist es gut, eine zweite Heimat zu haben, mit der man sich freuen und der man die Daumen drücken kann.

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