Gesellschaftskritisches Theater ist nicht gut beleumundet. Es gilt als langweilig, aber halt immer noch irgendwie „wichtig“ – erst recht, wenn ein ganzes Theater im Ruf steht, darauf abonniert zu sein. Was passiert meist? Der Kulturmensch wird in Haft genommen und nach zwei Stunden wieder entlassen. Wie es anders geht, zeigt aufBruch. Das Berliner Projekt macht seit über 20 Jahren Theater mit Strafgefangenen, nicht nur in der JVA Tegel, man war auch schon in Chile, aktuell ist Shakespeares Sturm zu sehen.
Der Anspruch ist hoch, das Original wurde mit einer Version des afrokaribisch-französischen Schriftstellers Aimé Césaire verknüpft, dazu gibt es Texte des französischen Kolonialkritikers Frantz Fanon. Aber weshalb der Sturm? Shakespeares „poetische Sage kann durchaus als erstes Kolonialdrama der Literaturgeschichte bezeichnet werden“, sagen die Macher. Etwa die Hälfte der Darsteller sind People of Colour mit Vorfahren aus ehemaligen französischen Kolonien. Sie deklamieren aus Fanons Verdammte dieser Erde. Aber – keine Sorge, meistens wird Deutsch gesprochen. Und: Vorsicht, Denkfalle. Ob die Darsteller Deutsche in zweiter Generation sind oder ein Asylverfahren läuft, spielt keine Rolle. Wer so hinschaut, wird überführt, als Nachfahr von „Kolonialherrschern“.
Auch das identitätspolitische Theater bekommt in der ehemaligen Teilanstalt III eine Wirklichkeit. Weil Laien spielen, freilich auch, weil echte Verdammte spielen – manch einer sitzt seit über 20 Jahren ein. Chris-Bär Templiner gibt zusammen mit Robbit T. den Prospero, den rechtmäßigen König von Mailand, einen aufgeklärten Humanisten. Der Deutsch-Kongolese P. Kiala als Tochter Miranda schlüpft gar in die Rolle des „schwachen Geschlechts“, er trägt eine blonde Lockenperücke und Lackledermantel. Als Sklave Caliban ruft er einmal ins Publikum: „Nigger dürft ihr nicht mehr sagen, aber uns an der Küste Europas ersaufen lassen, das geht.“ Vielleicht ist es sein Text. Es gehört zur Philosophie des Gefängnistheaters, dass die Darsteller eigene Gedanken einbringen. Für Sturm wurden sie gefragt, was sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden. Einer schrieb: „Zuversicht, die meine letzte Geliebte ist.“
Delikte? Unwichtig
Gecastet wurde wie im Theater draußen. Die Delikte, unwichtig. Keine schwelenden Konflikte mit Insassen und ein ehrliches Commitment waren die einzigen Bedingungen. Niemand durfte sagen, Stimmtraining oder Chorprobe – lieber nicht. Sieben Wochen wurde geprobt, wochentags von 16.00 – 20.30 Uhr. „Herr Riemer“ ist schon in Rente, er gehört zu den Helfern, die all das ermöglichen, weil: Ein hohes Sicherheitsrisiko gibt es, selbst wenn 14 Häftlinge nur Shakespeare proben.
Apropos Stimmtraining. Man identifizierte bei den Spielern eine Färbung, typische Sprachfehler. Manche Koloratur führte direkt ins Milieu, zu Klischees, die manchmal ja nur zu wahr sind. Befördert Herkunft kriminelle Karrieren? Verdammt noch mal ja! Wahr ist auch, dass Kleider Leute machen. Dieser Trinculu sah doch aus wie ein Hipster, der wirklich nur Theater spielt. Im Gespräch später schien einfach nur ein netter Typ.
Und von wegen Klischees, einen Schweizer würde man jetzt auch nicht gerade in der JVA Tegel erwarten, aber es gab ihn. Während Chris-Bär Templiner schon zu den alten Hasen gehört, im Parsival mitspielte, hat H. Peter Maier C.d.F (!) hier seine Premiere, singt Mahlers Ich bin der Welt abhanden gekommen, während wir Zuschauer wie an einer Reling stehen, unten die Matrosen, die eine Meeresfläche aus Plastiktüten umtost (Bühne: Holger Syrbe), oben Miranda. Ihr ganzer Körper bebt, das Meer verschwimmt, schlägt dramatische Wellen, und bei der Ballade von den Seeräubern, „0h Himmel, strahlender Azur, enormer Wind, die Segel bläh“, wird komplett am Stuhl des Zuschauers gesägt, es beschleicht einen die Melancholie.
Aber, Vorsicht, noch eine Falle: Bloß nicht die Umstände der Aufführung mit einem Theaterthrill verwechseln. Denn wenn man diese Sicherheitsschleuse passiert, über den unwirtlichen Gefängnishof an den Häftlingen vorbeigeht, die hinter einem Zaun dann tatsächlich wie bei Netflix Runden drehen, wenn man dann so richtig abgetastet wird und überhaupt diese ganze beklemmende Atmosphäre einer Justizvollzugsanstalt erlebt (auch wenn die Polizisten zu Scherzen aufgelegt sind), dann ist man schon ein anderer Gast als der, der man sonst im Theater wäre.
„O Wunder! Wie viel feine Geschöpfe gibt es hier! Wie schön ist das menschliche Geschlecht!“, verabschiedet P. Kiala das Publikum. Moral von der Geschicht: Dieses Laientheater degradiert uns für heute zu Mittätern der Verhältnisse. Die Moralkeule stecke man sich einfach in die Tasche. Klar, man kann gar nicht anders, als sich zu fragen, wie es sein kann, dass so viel Potenzial hier landet. Aber es ist dieses Theater auch darin Lehrstück, es geht nicht darum, den „sozialpädagogischen Effekt“ auf die Häftlinge zu beurteilen, zu staunen, was doch in manch einem Schwerkriminellen steckt. Es ging darum, zu vergessen, wer da spielt, und sich klar zu werden, dass wir alle andere sein können.
Info
Der Sturm Peter Atanassow (Regie), Gefangenentheater der JVA Tegel, Berlin
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