Lyrik sei die Textgattung, die auf kleinstem Raum die meisten „Absprünge“ zulasse, sagt der Lektor für Lyrik, Übersetzer und Autor Jo Frank. Mit dieser „Mischtextur“, wie er seine Literatur nennt, habe er aber für sich die ideale Form gefunden, sein Band heißt Snacks. Etwas zur Schönheit von Primzahlen? Bitte schön, findet man. Nicht linear sei das alles, erläutert Frank bei ein paar Zigaretten, aber nicht linear sei ja letzten Endes auch die Art, wie man denke, zum Beispiel: „Ich kann nicht über den Drehstuhl nachdenken, ohne an seinen Erfinder Thomas Jefferson zu denken und ohne dann bei der amerikanischen Geschichte zu landen.“ Um eine natürliche Denkbewegung abzubilden, müsse man zu extremen Mitt
xtremen Mitteln greifen, um die „Flächenkaskaden“ zu zeigen, die jeder im Kopf habe, dürfe man nicht zaudern.Herausgekommen ist ein zart gesampeltes Ding, ein Kopfkino aus Sequenzen, Experimenten, Sprachspielen: „sage ich sprache, meine ich meine sprache, meine ich eine sprache, die nach cadbury’s chocolate schmeckt.“ (Falls einer Cadbury nicht kennt: Das ist eine feine, altherkömmliche britische Schokoladenmarke). Es gibt Reiseimpressionen eines lonesome Nomaden, der am Flughafen noch nicht abgeholt werden will. Es gibt Kindheit, Fußnoten, die eher noch zum Weiterdriften einladen: „Sie gehen nicht in die Tiefe, sie funktionieren wie ein Netz“. Es gibt eingestreute Gedichte, zum Beispiel von der Deutsch-Französin Odile Kennel, die Jo Frank verehrt.Denn Frank ist auch der Mitbegründer des Berliner Verlagshaus, eines kleinen Verlags für Lyrik und Illustration, mit dem schönen Claim „Poetisiert euch“. Und tja: Die Arbeit als Lektor verderbe nicht nur das eigene Lesen sofort, die Arbeit als Lektor beeinflusse natürlich das eigene Schreiben. Sein Buch ist nicht in seinem eigenen Verlag erschienen. Frank erzählt, dass er die Edition Atelier fast in den Wahnsinn getrieben hat, weil in letzter Sekunde noch ein Index mit Personen und Plätzen in den Band sollte. Und just fällt ihm noch ein ... – rastlos wirkt er, wie der Erzähler in Snacks.Der Sohn einen Professors für Systematische Theologie zieht in den frühen 1980ern als Fünfjähriger mit der Familie von Marburg nach Großbritannien, „das sind auch privilegierte Bewegungen, aber innerlich empfand ich eine große Ungerechtigkeit“. Die Eltern hörten damals auf, mit den Kindern Deutsch zu sprechen. Das sei damals so gewesen, man habe Bilingualität kritisch gesehen, während sie heute eher überhöht würde. Und damit müsse man kritisch umgehen, den allgemeinen Bildungsehrgeiz hintertreiben. In Snacks beschreibt Frank, wie er für seine Kinder nach einem englischen Kinderlied sucht; er wählt die asiatische Variante auf Youtube, das Englisch klingt lustig. Viele Passagen in Snacks sind bilingual, in poetischem Kauderwelsch, sicher ist, „dass in jedem meiner Texte 12 Gramm Sentimentalität drinstecken“.Auf keinen Fall sollte man der Erzählstimme trauen, Schreiben sei ja immer ein Kondensator von Erfahrungen, aber natürlich fiktionalisiert: „home war klar: home war a mock-georgian house with a garden, home war oben schlafen und unten wohnen, home war ein stockbett und ein bruder, ein hochbett und eine schwester. (…) zuhause war eine nacht fahren und eine nacht fähre und einen tag fahren und bei freunden abgegeben werden und dort sein für ein woche (...) und kein Krankenhaus.“Zwölf Gramm SentimentalitätDas kosmopolitische, vielsprachige Spiel mit Identitäten, die durch Sprache entstehen, changieren oder sich neu vergeheimnissen, transportiert sich – auch wenn man gerade nichts versteht, grafisch zum Beispiel, bei den Passagen auf Russisch. Es gibt bei uns kein Wort für Muttersprache, sagt die Russin. Sprache, so die Idee, lässt Assoziation zu, bietet Zeichen, weil es immer einen Kontext gibt, eine Melodie. Man kann nicht „in Sprache migrieren“, steht irgendwo, aber die sprachliche Distanz und/oder Nähe zwischen Menschen ist eine existenzielle Erfahrung. Jo Frank ist auch der Geschäftsführer des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks für jüdische Begabtenförderung, er kommt mit internationalen Stipendiaten zusammen, Erfahrungen, die sicher in seinen Text eingeflossen sind.Wer die 88 DIN-A4-Seiten zunächst auf Umweltpapier in Händen hält (und nicht schon den fertigen Band), muss erst einmal durchatmen. Wie soll man das lesen? Wie diesen stream of consciousness bewältigen? Vielleicht einfach als scream of consciousness? Hören also. Seine eigene Stimme beim Lesen hören, als sei es Jo Franks Stimme, wie er jetzt gerade spontan ein Gedicht vom Smartphone rezitiert ...Anderer Zugang: Vor vielen Jahren habe er schon dem Dichter Lance Anderson seine Idee vom Schreiben dargelegt und der habe gerufen: „You are not talking about a book, you are talking about a fucking map!“ Genau: „Man kann den Band lesen wie eine Landkarte“, die Gedanken sollten aber nicht flüchten, sagt Jo Frank, man lese bitte konzentriert. Seine Karte habe zwar etwas Manipulatives, sie sei aber als Geste der Zuwendung zu verstehen.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2
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