Sonntag, früher Nachmittag. Ein Rollkoffer rumpelt, im Hamburger Schanzenviertel sind die Bürgersteige sonst noch hochgeklappt. Man duzt sich, das schafft Nähe, und um Nähe geht es eigentlich auch, im Gespräch mit dem Schriftsteller Anselm Neft.
der Freitag: Anselm, ist dein Text für Klagenfurt die Geschichte eines Wutbürgers?
Anselm Neft: Wenn, ist das ein Wutbürger, der nicht mehr Bürger ist, weil er aus allen Zusammenhängen rausgefallen ist. Der interessiert sich nicht für Pegida oder die AfD.
Ist dein Text fantastisch, politisch? Oder beides?
Politisch auf einer Ebene, ja. Das Soziale konstituiert Welt, aber erdachte Wirklichkeit wirkt ja auch und begründet ihrerseits wieder das Soziale. Es geht mir auch darum, Mythologien offenzulegen oder fragwürdig zu machen. Dem Leser zu helfen, auf einer Art „Einweihungsweg“ Dinge, die er für gesetzt hält, infrage zu stellen. Oder, jetzt wird’s groß: Es geht mir auch um das Wesen der Kunst. Was passiert mit uns, wenn wir unseren Schmerz zu Dichtung verdichten?
Die alte Frage: Kann nur schreiben, wer verwundet ist?
Na ja – das ist so eine romantische Position. Oft wird man eher still, wenn man traumatisiert ist. Aber es ist sicher nicht von Nachtteil, vom Leben aufgeraut zu sein. Obwohl: Robert Musil verhielt sich sehr distanziert zur Welt. Vielleicht als Ausdruck seiner Verwundung.
Eine sehr nervöse Beobachtungsgabe war das bei Musil …
Gleichzeitig sehr abgespalten. Wie der Kommentar einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Hast Du die Aufregung um Simon Strauß und sein Debüt „Sieben Nächte“ verfolgt?
Ich würde eher von einem Essay sprechen, das zu einem Generationenroman hochgejazzt wurde. Strauß‘ Sprache hat einen Sound und seine Diagnose finde ich interessant. Ich halte die Position aber für lächerlich und narzisstisch zu sagen, dass man heute nichts Schlimmes erlebt. Richtig albern ist die Idee mit den sieben Todsünden. Als Satire hätte das was.
Ist diese Zivilisationsmüdigkeit nicht unfassbar dekadent?
Ich glaube schon, dass es ein Problem gibt, wenn eine Gesellschaft sehr zivilisiert ist. Das besteht aber nicht darin, dass man sich langweilt, sondern dass man unheimlich viel Anpassung leisten muss. Das erschöpft, führt zu Depression oder Vitalitätsverlust. Und unter der Oberfläche ist halt doch noch sehr viel Gewalt. Außerdem muss der Einzelne viel schlechtes Gewissen kompensieren, weil: Es geht nicht allen gut. Eine Sache ist nun zu sagen, derjenige, der mir Schuldgefühle verursacht, ist der wahre Täter. Oder man schimpft auf die, die falsche Sündenböcke suchen, und macht diese zu Sündenböcken.
Zur Person
Anselm Neft, Jg. 1973, wuchs in Wachtberg/ Pech auf, dem „Beamtenspeckgürtel“ von Bonn. In Bad Godesberg ging er zur Schule. Ebenfalls in Bonn studierte er Vergleichende Religionswissenschaft. Der Schriftsteller lebt in Hamburg, wo er die Lesebühne „Liebe für alle“ betreibt
Foto: Maren Kaschner
Wir sprechen jetzt über links und rechts, oder?
Es gibt jedenfalls zwei große psychologische Möglichkeiten, mit Schuldgefühlen umzugehen, und die befinden sich in einem permanenten Beziehungsstreit.
Personalie Merkel. Herrscht zurzeit Angstlust, dass man im Sinne von Strauß‘ Protagonist Sehnsucht hat, dass sich etwas radikal ändert? Endlich Neuwahlen!
Ich glaube, die Leute in Deutschland haben vor nichts so viel Angst, als dass sich was ändert. Gleichzeitig kann man dieser Angst mit einer gewissen Lust begegnen. Was wäre, wenn wir jetzt so eine Festung Europa aufbauen, und dann kommen wie in Game of Thrones die „White Walker“ und stürmen diese Eiswand? Ich kann auch verstehen, dass man aus einer inneren Leere heraus sagt, es gibt keine Initiation in das echte wahre Leben mehr. Aber wenn künftige Generationen mal den Strauß-Essay lesen oder wenn man das Grimmelshausen gegeben hätte …
Es hieß, da wandert rechter Diskurs in die Literatur …
Ich würde das nicht moralisch diskutieren, sondern anhand der Qualität des Textes.
Schadet in all den Debatten zu viel Intellektualität?
Es kann zumindest passieren, dass selbst ein sehr gebildeter Mensch sehr unreflektiert alles Mögliche in sein Gegenüber projiziert. Es klingt jetzt sehr psychologisch, aber manche Intellektuelle sind erstaunlich blind für ihre Hintergründe. Es würde helfen, wenn man sich öfter fragt, „warum empöre ich mich? Was hat das mit mir zu tun?“
Du warst in Bonner Zeiten mal rechts, damit gehst du offen um, wart ihr frühe Identitäre?
Da war eine eskapistische Sehnsucht nach einer Nichtmoderne, nach einer nicht so abstrakten, komplexen, durchdifferenzierten Welt. Da war so ein Jungmännertraum von Bedeutung, Kampf, Wildheit. Diese Art von Rechtssein, die ich damals kultiviert habe, war vielleicht die Kubitschek-Schiene, etwas dünkelhaft auch ...
Ich muss an Heidegger denken …
Wir waren eher pro heidnisch. Es ist seltsam übrigens, dass Götz Kubitschek sich als Christ bezeichnet, weil Faschismus und Christentum nie gut zusammengehen. Jetzt werden viele aufschreien, „hat in Italien und Deutschland wunderbar funktioniert!“. Ich würde aber jederzeit eine Lanze für das echt verstandene Christentum brechen, das wirklich deutlich humanisierende Tendenzen hat.
Bist du Katholik?
Das alles hat mich geprägt. Aber da war viel Heuchelei, rhetorische Spitzfindigkeit. Ich war auf einer Jesuitenschule, es gab sexuelle Gewalt, Machtmissbrauch. Ich habe mich später mit dem Studium dem Christentum noch mal auf eine denkerische Weise, auf einer mythischen Erfahrungsebene genähert. Wie alle große Mythen, die so eine lange Strahlkraft für Gesellschaften behalten haben, gibt das Christentum schon sehr zentrale Einsichten in das Menschsein.
Das Konzept Ethnopluralismus fandest du gut. Böse gefragt, was ist so schlecht daran?
Die Behauptung, es gäbe ewige Archetypen, die da walten. Dadurch behaupte ich, es gebe keine Integration, und erschwere sie dadurch. Etwas anderes ist ein nicht verabsolutierender Ethnopluralismus, also die gemäßigte Arbeitshypothese, indem man sagt, na ja, die kulturelle Identität spielt für viele Leute schon eine große Rolle, gerade wenn der Ich-Kern sich nicht sehr entwickeln konnte. Man kann nicht so tun, als ob Menschen völlig ungegründete Individuen wären, die in eine globalisierte Welt geworfen werden und überall funktionieren.
Wo fängt denn Rassismus an?
Der Rassist ist meines Erachtens einer, der aus seiner Fremdenangst eine pseudorationale Weltanschauung macht, die ihm im Alltag dabei hilft, die eigenen inneren Konflikte zu strukturieren. Nicht jeder, der eine rassistische Bemerkung macht, ist in meinen Augen ein Rassist, beziehungsweise, er ist es nur in diesem Moment.
Dagegen hilft nur Zugewandtheit, hast du einmal gesagt …
Die rechte Ideologie ist eine Ideologie der Pseudostärke. Wer dagegen vorgehen will, kann nicht selber treten, sich vor anderen Eliten verbeugen. Wenn ich einem Kult der Stärke begegnen will, dann mit einem Kult der Humanität.
Mit Humanismus und Aufklärung brauchte man dir aber damals nicht zu kommen.
Ich vertrat die Nietzscheanische Idee, das Große und Erhabene soll ungebremst schalten und walten. Es war auch eine Reaktion auf meine christliche Erziehung und die Schuldgefühle, die mir von meiner Mutter mitgegeben wurden. Es gibt so eine weibliche Form des Missbrauchs, die wenig auffällt, weil sie nicht gewalttätig wirkt, aber durch Schuld und erpresste Loyalität bindet. Verstehst du das?
Ich bin auch katholisch erzogen …
Die Gegenwehr war der Satanismus, das Rechte, die Bejahung des Leidens und des Schreckens. Aber dadurch kommt man nur von der Mamasekte in eine andere. Die größte Sekte der Welt ist für mich das Militär, das Jungen weltweit zu Kriegern erzieht, die Schmerzen aushalten sollen. Das ist die Verkrüppelung der Männer, die immer weiter gegeben wird.
Klingt etwas maskulinistisch, aber diskussionswürdig!
Vielleicht kann man den Schwarzen Peter der Schuldzuweisungen zwischen Männern und Frauen aus dem Spiel nehmen und analytisch gucken: Warum sind Männer frauenfeindlich? Gewalttätig? Wo kommt das her? Ganz unideologisch. Vielleicht kriegt man andere Antworten als: weil Männer eben so sind.
Wie geht besser streiten?
Ich würde dafür plädieren, den Druck rauszunehmen, indem man sich den eigenen Schuldgefühlen zuwendet. Innehält und sagt, die anderen sind jetzt mal nicht schuld. Und dann sich selbst ein wenig zu vergeben und zu sagen, ich bin überfordert. Dann hat man wieder mehr Spielraum, um mit anderen über das zu reden, was wir vielleicht doch ändern können. Dass das Leben leidvoll ist, will keiner mehr wissen. Vielleicht weil es keinen Gott mehr gibt, auf den man die Schuld schieben kann.
Fehlt es an Spiritualität?
Vermutlich. Gebt Gott den Schwarzen Peter, dem Universum, in das ihr geworfen wurdet. Übrigens eine Wahnsinnsstory, die christliche Heilsgeschichte. Man muss sie nur wieder für sich freilegen. Oder man nimmt eine andere Geschichte. Wichtig ist nur, dass sie alle einschließt. Auch die „Bösen“.
„Wir, die wir nicht an Gott glauben, brauchen die ganze Gerechtigkeit, sonst müssten wir verzweifeln“, sagte Albert Camus ...
Die Sache ist doch, wenn man Freiheit spürt, kann das ein ganz kalter Wind sein. Im Zarathustra steht ja auch sinngemäß der Satz: „Nicht frei wovon, frei wozu, davon sollst du mir künden.“ Ich glaube, die Leute spüren diesen Verantwortungsdruck, machen sich das aber häufig nicht so bewusst. Solange einem diese Zusammenhänge nicht klar sind, braucht man Sündenböcke, um sich zu entlasten.
Du bist von rechts nach links gewechselt. Seltene Konversion. Was war der Grund?
Mein Körperpanzer war zerbrochen. Ich war an meine Verwundungen rangekommen, ohne es zu wollen. Ich musste mich mit mir selbst auseinandersetzen. Danach war mir die rechte Privatmythologie intellektuell zu dürftig. Trotzdem habe ich in meiner Polemik immer noch so ein Dominanzgebaren.
Wir sind ja auf der Schanze, politisiert hier – naturgemäß. Man denkt fast, manche Frage stellt man besser nicht.
Hardcore-Kommunisten oder Antifa-Gruppen können schon sehr humorlos sein. Als Schriftsteller möchte ich nicht beschränkt werden. Es braucht Verstörungspotenzial. Ich würde niemals den Marquis de Sade verbrennen. Da kann sogar ich humorlos werden.
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