Hingabe, Hohn

Monströs Luce d’Eramo hatte Mussolini im Gepäck und suchte Gemeinsinn im Faschismus
Ausgabe 30/2018

Sie muss eine beeindruckende Frau gewesen sein, die Italienerin Luce d’Eramo. In ihrem Memoir Der Umweg berichtet sie, wie ihr wütender Blick in einem deutschen Arbeitslager einen fletschenden Hund so fixieren konnte, dass das abgerichtete Tier sich beruhigte.

D’Eramo wurde 1925 in Reims geboren, während des Zweiten Weltkriegs kehrte die Famile zurück nach Italien, bis zu ihrem Tod 2001 lebte sie in Rom. In der Nachkriegszeit avancierte die Schriftstellerin zu einer bedeutenden Linksintellektuellen, in jungen Jahren aber war sie eine Faschistin aus großbürgerlichem Haus. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, winkt ihrem Vater eine Stelle als Staatssekretär in der (letzten) Mussolini-Republik von Salò, dem Satellitenstaat unter militärischer Protektion des Deutschen Reiches mit dem Regierungssitz am Gardasee. Man kann sich gut vorstellen, wie es sich inmitten des Krieges, hübsch protegiert von Duce und Führer, leben ließ, und wäre Lucia Mangione, wie sie mit Mädchennamen hieß, ein Sohn gewesen, hätten die Eltern das Kind sicher auf eine militärische Karriere eingeschworen. So wird der Tochter eine gute Partie, die Heirat eines hochrangigen Offiziers vielleicht, in Aussicht gestanden haben.

Lesenswerte Zumutung

Die Jungfaschistin aber fremdelt mit ihrer privilegierten Herkunft: Soll die „Neue Ordnung“ nicht die Klassen überwinden? Als Mussolini 1943 abgesetzt wird und die Regierung von Pietro Badoglio Deutschland im Oktober den Krieg erklärt, werden auch die Gerüchte über die Lager des Dritten Reiches immer detaillierter, und das begabte Mädchen, das inzwischen in Padua Philosophie studiert, kann nicht glauben, dass das wahr sein soll, was man so hört und liest. Lucia ist 19 Jahre alt, als sie im Februar 1944 gegen den Willen der Eltern freiwillig nach Nazi-Deutschland reist, um die „Wahrheit“ zu finden. Die Bilder ihrer Idole Mussolini und Hitler hat sie im Rucksack verstaut, vornehm gekleidet und kämpferisch gestimmt kommt sie in Frankfurt an.

Doch schon nach ein paar Tagen ist die „liebenswerte Faschistin“ (Spiegel, 1982) empört über die Ungerechtigkeit im berüchtigten Arbeitslager IG Farben; hier hat die Studentin den Arbeitsdienst angetreten. Fast 190.000 Zwangs- und Fremdarbeiter sind 1944 beim Chemie- und Rüstungskonzern beschäftigt, die Italienerin will eine von ihnen sein. Von wegen Gleichheit der Völker! Sie erkennt schnell, dass die Osteuropäer viel schlechter behandelt werden als Franzosen und Italiener. Die Ost-Baracken liegen weiter weg vom Fabrikgebäude, es gibt noch weniger Essen. Später, als sie eine Zeit in München herumvagabundiert, stellt sie fest, dass sogar französische Offiziere in Kriegsgefangenschaft besser klarkommen als deutsche Soldaten auf Heimaturlaub. Die Deutschen haben Hunger und keinen Platz zum Schlafen. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ – alles Lüge. Die Wahrheit ist: Herkunft schafft Vorteile, sei es nun Geld oder ein militärischer Rang. Die Faschisten sind Opportunisten, und Lucias Kollegen, fast immer einfachste Leute, haben für ihr Geschwätz von der „Hingabe an eine Sache, Seelenstärke bei Schwierigkeiten“ nur Hohn übrig. Kein Wunder, wenn man Krätze hat und Läuse, an Hunger leidet, die „Scopina“ fickt für eine Zigarette.

Im Jahr 1979 erstmals in Italien erschienen, wurde Der Umweg eine Sensation. Zählt d‘Eramos autobiografischer Roman zur Holocaust-Literatur, wie in früheren Rezeptionen zu lesen? Der ohnehin schwierige Begriff wirkt hier deplatziert, zumal Luce d’Eramo nur selten über das Schicksal der Juden im Dritten Reich berichtet. Im italienischen Faschismus war der Judenhass nicht so präsent, dennoch, es befremdet, wenn sie schreibt, dass auch bei den Juden die Reichen ja doch meist emigrieren konnten.

„Lager-Literatur“? Noch so ein schwieriger Gattungsbegriff. Nach einem missglückten Streikversuch wird Lucia in Dachau interniert. Ein Selbstmordversuch mit Rattengift rettet sie, danach die Erste-Klasse-Versorgung im Lazarett. Lager-Literatur scheint nicht zuletzt unpassend, weil das Ich-Stakkato der Erzählerin zuweilen disparat zu lesen ist, die in sich abgeschlossene erste, schon öfter veröffentlichte Erzählung Thomasbräu wirkt harmonischer als die gehetzten Nachkriegserinnerungen.

Der Umweg ist zwischen 1953 und 1977, sprichwörtlich auf Umwegen, entstanden. Der letzte Teil scheint wie von der Seele geschrieben. D‘Eramo, die später über Immanuel Kants Kritik der Vernunft promovierte, notierte ihre Erlebnisse während großer Lebenskrisen. Lange Zeit war sie nach dem Krieg zunächst damit beschäftigt, so gut es ging, ein normales Leben zu führen. In Mainz war sie bei dem Versuch, Verschüttete nach einem Luftangriff aus Trümmern zu retten, selbst unter Mauern begraben worden. Querschnittsgelähmt und mit künstlichem Blasenausgang, wollte sie selbst da noch nach Russland, träumte von echter Solidarität. D‘Eramo heiratet, wird Mutter, ihr Sohn ist der Publizist Marco d‘Eramo (der Freitag 24/2018), sie nimmt das Studium wieder auf, unterzieht sich vielen Operationen, wird abhängig von den Medikamenten.

„Die Wahrheit“ – sagt ihr ein Mann im Durchgangslager in Dachau, vom dem aus man einen Blick auf die noch ausgemergelteren Gestalten gegenüber im KZ Dachau erhaschen konnte – „ist so monströs, dass kein Mensch etwas daraus lernen kann, das gilt schon für uns. Und dann denken wir an diejenigen, die nicht hier gewesen sind, wie sollen sie sich dafür interessieren? Es gibt nichts Universelles in unserem Leiden, nur Aufhetzendes, Unmenschliches und Triviales.“ Aber warum muss es überhaupt etwas Universelles geben, damit es uns etwas angeht? Tatsächlich ist Der Umweg eine monströse, packende, unbedingt lesenswerte Zumutung, manche Bilder sind abgeschmackt, oft fehlt eine „Philosophie“, immer ist da aber die Getriebenheit, sich von der eigenen Klasse bis zur Selbstvernichtung abspalten zu wollen. Ein schlüssigeres Bild hat d‘Eramo nicht, diese schmerzhafte Lücke aber ist kraftvoll.

Info

Der Umweg Luce d‘Eramo Linde Berk (Übers.), Klett Cotta 2018, 480 S.,24 €

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