Im Reich der Onkel

Krimi „Die Söhne der Winde“ ist ein sinnlicher, zärtlicher Roman über Süditalien und die Mafia
Ausgabe 15/2019
Junge Männer lesen kommunistische Zeitungen in Italien um 1955
Junge Männer lesen kommunistische Zeitungen in Italien um 1955

Foto: Evans/Three Lions/Getty Images

Es sind ja nur rund 330 Seiten, aber man taucht in diesen Roman ein wie Nicola, Filippo und Antonio in das „Madonnenblau des Ionischen Meeres“, besser gesagt, die Jungs stürzen sich einfach vom Kap hinunter. Zwischendurch ist das würzige Aroma vom Ziegenkäse zu schmecken, den die letzten Hirten im Aspromonte noch traditionell herstellen. Vom Dorf unten hoch in die Berge verschlägt es die Jungs notgedrungen, sie haben nicht nur etwas Ernstes angestellt, bei einem Raubüberfall Schmiere gestanden –, sie haben sich auch mit der Mafia angelegt. Hier im Aspromonte hat die kalabrische Mafia in den 1970ern tatsächlich auch Entführte versteckt. Aber nicht deshalb gerät die Flucht in der Nacht zur geheimnisvollsten Wanderung ihres Lebens. Nicola hätte sich nicht vorstellen können, wie schön es sein kann, mit dem Hirten Binu Käse, Oliven und Brot zu teilen, wortlos, erfüllt von der Natur, zutiefst erschöpft. In den nächsten Tagen lernen die Jungs, wie der Ricotta gemacht wird, aber sie werden in den Bergen nicht bleiben können, und sie wollen es auch nicht.

Die ’Ndrangheta! Süditalien! Die 1960er Jahre. All das eignet sich perfekt für eine so sinnliche, mythische Erzählung wie Die Söhne der Winde. Da sind die archaischen Codes und Strukturen, da leuchtet die Magie aus einer verschwundenen Zeit auf, wie in einem neorealistischen Film, wenn die Mütter abends im Wohnblock draußen an den Kohlebecken stehen, sich die alten Geschichten erzählen, die Söhne im Türrahmen lungern und rauchen. Die Männer arbeiten meist im Norden, Nicolas Vater in Wolfsburg. Die Atmosphäre ist geprägt vom Verlassenwordensein. Das Sagen haben die Alten, die Mütter, der Priester, die kleinen Mafiosi und große. Letztere wohnen in den Berghängen. Fast jeder in der Familie hat einen Onkel, der ein Verbrecher ist. Aber was soll’s? Der Don tut praktisch mehr für das Gemeinwohl als dieser arrogante, unfähige, korrupte Staat.

Die Söhne der Winde ist ein zärtlicher Roman, obwohl die ’Ndrangheta die Schicksale der Leute so gnadenlos lenkt. ’Ndrangheta-Soldaten werden ins Verbrechen hineingeboren, heißt es, traditionell warten die Halbstarken, die gestern noch Kinder waren, sehnsüchtig auf ihre Initiierung. Statt Arbeitslosigkeit wartet das schnelle Geld, und so manche Familie wartet längst auf den kommenden Zuverdienst, ganz genau will freilich niemand wissen, woher die Lira kommen. Es ist wie ein offenes Geheimnis. Die Söhne der Winde ist nicht zuletzt auch eine berührende Coming-of-Age-Geschichte, noch sind diese Jungs gute Jungs, auch wenn sie längst die Schule schwänzen, den Tag mit Flipperspielen verbringen. Und bevor alles passiert, halten das Dorf, die Kirche, die Tradition und der Aberglaube die Jungs noch unter den Fittichen. Die größte Mutprobe bisher: „die Luppa“ zu beklauen, die am alljährlichen Patronatsfest Nüsse auf der Piazza verkauft. Morgen wollen die drei der Legende, der alljährlichen Verwandlung des wilden Stiers in ein zahmes weißes Lamm nachgehen. Flirrend! Und wie filmreif kann man eine Flipperszene beschreiben? Bei Gioacchino Criaco hält man den Atem an. Sein Dorf Africo gibt es ja wirklich, gleich zweimal. Im Jahr 1951 wurde das alte Africo durch einen Erdrutsch zerstört. Das Bergdorf wird in einem Sumpfgebiet neu aufgebaut, ein besseres Land wollte man den Bergbauern nicht geben. Hier ist der 54-jährige Criaco aufgewachsen, dem Autor gelang das Unwahrscheinliche, mit einem Stipendium studierte er Jura, arbeitete als Strafverteidiger in Mailand.

Koch mir Milch, Sophia Loren

Als wäre sein Leben selbst ein Mafiaroman: Sein Vater fiel einer Blutrache zum Opfer. Der Bruder war einer der meistgesuchten Mafiosi, er ist in Haft. Criaco ist nach 20 Jahren zurückgekehrt. Die Mafia war nie weg. Criaco beschwöre Bilder von Hieronymus Bosch herauf, ist zu lesen. Würde Die Söhne der Winde verfilmt (wie sein Roman Schwarze Seelen von Franceso Munzi, 2014), dann müsste eine wie Sophia Loren die Mutter von Nicola spielen. Die Mutter sieht alles, hört alles – und sie schweigt. Ihr Herz ist voller Liebe, zeigen kann sie es mit der dampfenden Milch, die sie dem Kind immer noch jeden Morgen hinstellt. Dann duftet es nach karamellisiertem Zucker. Man stellt sie sich auf dem Marktplatz vor, wie sie sich, angesteckt von den revolutionären Reden Papulas, für die Rechte der Jasminpflückerinnen einsetzt. Es sind Wochen voller Optimismus, Schicksalswochen auch für die Jungs: Kommunismus oder Mafia.

Auch diese Episode basiert auf wahren Ereignissen. In einem Interview mit der NZZ erzählt der Autor, dass es diesen Aufstand wirklich gab, er wurde wie im Roman mit Tränengas niedergeschlagen. Profitiert hat die Mafia. Die signalisierte: Die Politik lässt euch allein, wir nicht. Etwas schafft die großartig gezeichnete Figur der Papula, nämlich die Kommune zu zwingen, dass der Zug in Africo halten muss, nicht mehr vorbeifahren darf. Criaco gelingt es, dass man unbedingt einmal am Bahnhof von Africo Nuevo aussteigen will, um dann loszuwandern nach Africo Vecchio.

Info

Die Söhne der Winde Gioacchino Criaco Karin Fleischanderl (Übers.), Folio 2019, 336 S., 22 €

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