Bei ihm weiß man nicht exakt, was einen erwartet. Zuletzt war das im Vorprogramm der Aufführung von Beethovens Neunter ein Stück des japanischen Avantgardisten Toru Takemitsu. Später, im Finalsatz der Sinfonie, stand der im Publikum versprengte Chor plötzlich auf und schmetterte die „Ode an die Freude“. Nach sechs Jahren scheidet der Chefdirigent Iván Fischer, er bleibt dem Berliner Konzerthaus jedoch als Gastdirigent erhalten. Das Gespräch führen wir auf Deutsch, in fünf anderen Sprachen wäre es aber auch gegangen.
der Freitag: Herr Fischer, was macht das Berliner Konzerthaus für Sie zu einem besonderen Ort?
Berlin ist ja an sich schon ein spezieller Ort. Wir sind jetzt im Konzerthaus, das war der Konzertsaal von Ostberlin und die Philarmonie war der Konzertsaal von Westberlin. Ich habe beobachtet, dass das Konzerthaus sehr beliebt ist, nicht nur bei den ehemaligen Ostberlinern und ihren Kindern, sondern auch bei Leuten, die zum Konzerthaus mehr Affinität haben als – sagen wir – diese „100-Prozent-Wessis“. Viele kommen lieber hierher als in die Philharmonie. Man müsste das einmal psychologisch erforschen. Dann gibt es noch die neue kosmopolitische Seite. Berlin ist eine fantastische internationale und tolerante Stadt, viel mehr als viele andere deutsche Städte. Berlin ist so etwas wie ein New York von Europa geworden. Das liegt auch an den vielen kulturellen Möglichkeiten in dieser Stadt.
Das Konzerthaus hat seine Identität behalten, es hat versucht, Tradition fortzuleben. War die Berliner Volksbühne zu fixiert auf ein internationales Flair?
Zur Volksbühne kann ich nichts sagen. Das Konzerthaus wurde ein bisschen bunter und verjüngt in den letzten 10, 20 Jahren. Die Besucherschaft ist stark angestiegen. Heute ist das Konzerthaus „in“.
Sie probieren viel aus ... Es gibt seit diesem Jahr Virtual Reality am Konzerthaus und: Sie inszenieren den „Grüffelo“!
Ja. Es ist eine Oper für Kinder ab drei Jahren. Ich stelle mir vor, dass es für viele Kinder die allererste Opernerfahrung wird. Ob sie dann bis zu Wagner kommen, wer weiß. Wichtig ist, wie man anfängt.
Welches Instrument wird denn der Grüffelo spielen?
Jedes Tier hat eine Instrumentengruppe. Die Eule hat ein Cello, ein Vibrafon und ein sehr komisches Schlaginstrument. Dann kommt der Grüffelo und seine Instrumente sind eine elektrische Gitarre, ein Klavier und eine Posaune.
Zur Person
Iván Fischer wurde 1951 in Budapest geboren. Er stammt wie sein älterer Bruder Adam aus einer Musikerfamilie. Nach dem Erfolg beim Dirigentenwettbewerb der Rupert Foundation in London im Jahr 1976 begann seine internationale Karriere
András Schiff ist Artist in Residence am Berliner Konzerthaus. Der Pianist beklagte einmal verflachte Hörgewohnheiten.
Was meinte er damit?
Der Publikumsgeschmack sei trivialer geworden ...
Ich bin da optimistischer. Das Publikum wächst. Da gehört eine kleine Verflachung dazu. Wenn wir uns vorstellen, dass Schubert seine Konzerte für etwa 40 Leute aufgeführt hat. Jetzt sitzen im Saal 1000 Leute. Diese 40 hatten vielleicht mehr Zugang, mehr Begriff, mehr Kenntnis als die 1.000 heute. Die Welt wäre aber ärmer ohne die Lieder von Schubert. Und es ist gut, wenn er von vielen gehört wird.
Sie haben wie Ihr Bruder beim berühmten „Dirigentenmacher“ Hans Swaroswky studiert, ein Dirigentenmacher, was ist das?
Hans Swarowsky war vor allem ein Denker. Man lernte an der berühmten Swarowsky-Schule alte Musikaufführungspraxis, moderne Notation. Es gab eine ganze Menge solcher Nebenfächer. Die Idee war aber, dass Dirigenten gebildet sein müssen, dass es nicht nur darum geht, wie sie die Hände bewegen. Es war eigentlich eine sehr intellektuelle Klasse.
Die Swarowskys sind eine legendäre Wiener Industriellenfamilie, die von Kraus, Musil oder Werfel literarisch verewigt wurde. Swarowsky bekam angeblich Arbeitsverbot, emigrierte in die Schweiz, kehrte jedoch während des Krieges zurück. Seine Arbeit unter dem NS-Regime beziehungsweise sein Engagement für verfolgte Musiker ist noch unerforscht ...
Damals in Wien, in den siebziger Jahren, war das kein Thema. Es ging nur um die Musik. Wir Studenten wussten, dass er in ganz enger Freundschaft mit berühmten Komponisten war, das waren vor allem Richard Strauss oder Anton Webern, aber mehr wussten wir Studenten damals nicht. Ich freue mich sehr, dass es Versuche gibt, Swarowsky-Bücher herauszugeben, zum Beispiel seine Aufsätze in Die Wahrung der Gestalt. Es ist jetzt ein noch größeres Buch in Vorbereitung über ihn, und wir Studenten überlegen, wie wir das unterstützen können.
Ihre Großeltern wurden Opfer des Holocaust in Ungarn, Ihre Oper „The Red Heifer“ thematisierte den grassierenden Antisemitismus im heutigen Ungarn. Was bedeutet „Red Heifer“?
Auf Deutsch bedeutet es „die rote Färse“. Die Färse ist eine rote Kuh. Es geschieht ganz selten, dass man eine vollkommen rote Färse findet. Die biblische Legende besagt, dass sie geopfert wird und man sich in der Asche reinigen muss. In meiner Oper ist die „rote Färse“ eine kleine Kneipe, dort verhandeln die Dorfnobililäten, die meist antisemitisch sind. Die Kellnerin ist eine rothaarige jüdische Dame. Man nennt sie „die rote Färse“ ...
... am Ende reist der junge Moritz mit dem befreiten Vater im Zug nach Budapest – im Zug ... Es geht gleich wieder um Musik: Ich wollte Sie aber gerne fragen, wie fanden Sie den „Kippa Day“?
Das war eine sehr schöne Geste. Es ist wunderbar, dass man so positiv auf so eine Geschichte reagiert hat. Ich fand das eine lustige Antwort.
In den 1980ern gründeten Sie das Budapest Festival Orchestra. Die Orbán-Regierung sonnt sich im Prestige des Orchesters. Ihr Kollege András Schiff will nicht mehr in Ungarn auftreten. Sie hingegen engagieren sich zum Beispiel für die Roma in Ungarn.
Ja. Einmal jährlich findet im Juni, wenn das Wetter schön ist, das „Toleranzfest“ statt. Roma und Nicht-Roma-Kinder tanzen zusammen. Aus ganz Ungarn kommen die Kinder, seit 25 Jahren findet das Tértánckoncert statt.
Die Soros-Stiftung hat ihren Sitz in Budapest aufgegeben …
Ja, das ist sehr bedauerlich. Diese große Stiftung zieht jetzt nach Berlin. Es ist eine internationale Stiftung, sie können ihre Arbeit von hier aus leichter fortsetzen. Weil es hier weniger Konflikte gibt.
Verstehen Sie Ihre Arbeit eigentlich auch politisch?
Nein, überhaupt nicht. Die Musik ist eine abstrakte Sprache. Natürlich kann sie Menschen zueinanderbringen. Viele Orchester sehen sich als eine Familie mit verschiedenen Nationalitäten. Ein Orchester kann so ein Beispiel für europäische Integration sein.
War es Ihre Initiative, in die Konzerte mit Vorträgen einzuführen?
Es gibt wunderbare, nicht sprechende Dirigenten und andere, die ein Bedürfnis haben, etwas zu vermitteln. Leonard Bernstein war der Prototyp des vermittelnden Komponisten.
Zusammen mit Ihrer Enkelin gründeten Sie die ungarische Gustav-Mahler-Gesellschaft. Mahler hatte schon zu seiner Zeit mit antisemitischen Anfeindungen zu kämpfen. Woher rührt Ihre Faszination?
Gustav Mahler ist eines der größten Genies, absolut auf dem Niveau von Mozart, Bach oder Beethoven. Er komponierte in dieser Zwischenphase nach der Romantik und vor der Moderne. Er fühlte intuitiv die Spannungen, die zu den Weltkriegen führten. Ich sehe Mahlers Musik als eine prophetische Kunst. Weil er auf eine unerklärbare Weise fühlte, was in den nächsten hundert Jahren kommt. Das hat er auch komponiert.
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