Die Aussicht auf diese Wanderung klang eigentlich schön: entlang eines mäandernden Flüsschens, an Feldern vorbei und durch verwunschene einsame Auwälder. Also schnappte ich mir meinen Hund und setzte mich in die S-Bahn zum Ausgangspunkt der Tour, eine kleine Stadt nordwestlich von München. Und ging los. Erst durch den Ort. Dann durch ein nicht enden wollendes Neubaugebiet. Entlang an und schließlich auf einer großen Straße ohne Gehweg am Rande von Mais-Monokulturen. Über eine Brücke, unten die dröhnende Autobahn, und durch eine Unterführung, oben die Bundesstraße. Vorbei an Müllverbrennungsanlage und Klärwerk, dahinter Autobahnkreuz und Gewerbegebiet. Anderthalb deprimierende Stunden dauerte es, bis wir endlich dort
Wir fressen Fläche
Versiegelung Jeden Tag verbraucht Deutschland mehr als 50 Hektar. Grund wird verbaut und besiedelt, Natur ausradiert. Was kann diesen Wahnsinn stoppen?
ort ankamen, wo wir hinwollten: in der Natur.Bayern, das ist nicht nur die Idylle aus Bergen, Seen, Mooren, saftigen Wiesen, ursprünglichen Wäldern und hübschen Dörfern mit traditioneller Bauernkultur, mit der sich die Regierung des Freistaats so gerne schmückt. Es ist eben auch eine zersiedelte, zubetonierte, durch Umgehungsstraßen, Autobahnen und Gewerbegebiete verschandelte Landschaft. Jeden Tag wird hier eine Fläche von 10,8 Hektar verbraucht, mehr als sonst wo in Deutschland. Die Hälfte davon für Wohnraum und jeweils ein Viertel für den Verkehr sowie für Gewerbe- und Industrieflächen. Pro Jahr verliert Bayern dadurch rund 50 Quadratkilometer, eine Fläche so groß wie der Ammersee. Das ist nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern vor allem ein ökologisches.Verglichen mit brennenden Regenwäldern und havarierten Öltankern ist der tägliche Flächenfraß eine klandestine und schleichende Umweltkatastrophe. Sie ist aber nicht weniger folgenreich: Werden Flächen bebaut, geht wertvoller fruchtbarer Boden verloren. Versiegelte Böden können keinen Kohlenstoff mehr speichern und Regenwasser kann nicht mehr versickern – das führt zu Überschwemmungen. Lebensraum für Tiere und Pflanzen wird zerstört oder zerschnitten, das trägt zum Verlust der Artenvielfalt bei.2017 kippte Markus Söder, damals noch bayerischer Finanzminister, das sogenannte Anbindegebot. Dieses schrieb vor, dass Gewerbegebiete in direkter Nähe zu bestehenden Siedlungen errichtet werden müssen. Nun dürfen sie in freier Natur gebaut werden, sofern ein Autobahn- oder Gleisanschluss besteht. Das treibt die Zersiedelung voran und sorgt für längere Arbeits- und Einkaufswege, also für noch mehr Straßen, Autoverkehr, Luftverschmutzung, Klimabelastung und Lärm. Im Bundesverkehrswegeplan verzeichnet Bayern mit 322 neuen Straßenbauprojekten bis 2030 mehr als alle anderen Bundesländer.Die Betonflut eindämmenGerade verabschiedete der Bayerische Landtag ein Landesplanungsgesetz. Doch dieses wird den Flächenfraß kaum stoppen: Es enthält zwar die Richtgröße, bis 2030 nur noch fünf Hektar pro Tag zu verbrauchen. Aber dieser Wert ist freiwillig. Der BUND Naturschutz in Bayern fordert, dass dieser Richtwert verpflichtend festgeschrieben werden soll. Schließlich soll der Flächenverbrauch in Deutschland laut der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie pro Tag auf unter 30 Hektar verringert werden.Gesellschaftliche Mehrheiten dafür, den Flächenfraß in Bayern zu stoppen, gäbe es: vergangenes Jahr hat der Grünen-Politiker Ludwig Hartmann das Volksbegehren „Betonflut eindämmen“ auf den Weg gebracht, das eine verbindliche Obergrenze von fünf Hektar forderte. 46.000 Wahlberechtigte trugen sich in die Unterstützerliste ein, weit mehr, als für die Zulassung des Volksbegehrens nötig waren. Doch der Bayerische Verfassungsgerichtshof stoppte die Initiative mit der Begründung, es fehlten konkrete Vorgaben, wie der Flächenverbrauch gesenkt werden soll. Vor allem aber wehrten sich Wirtschaft und Gemeinden gegen das verbindliche Ziel. Sie versprechen sich von neuen Gewerbegebieten die Ansiedlung von Unternehmen und Arbeitsplätze. Laut einer Untersuchung des BUND jedoch geht diese Rechnung nicht auf: Anstelle von Handwerk und produzierendem Gewerbe würden sich dort vor allem Einkaufsparks, Logistikzentren, Discounter und Fastfood-Ketten ansiedeln. Das führt andersherum dazu, dass kleine lokale Händler aufgeben und die Ortskerne veröden. Darüber hinaus blieben viele Kommunen auf den Erschließungskosten sitzen.Der Flächenfraß ist aber nicht nur ein bayerisches Problem. Mit 56 Hektar pro Tag ist der Verbrauch in Deutschland immer noch fast doppelt so hoch wie die anvisierten 30 Hektar bis 2030. Das Erreichen dieser Zielmarke plante die Bundesregierung schon für 2020 und scheiterte. Laut Umweltbundesamt steigt die Flächennutzung für Siedlungen und Verkehr weiter an, während landwirtschaftlich genutzte Flächen zurückgehen. Laut Statistischem Bundesamt ist die Siedlungs- und Verkehrsfläche von 1992 bis 2019 um ein Viertel gestiegen: Sie misst nun mehr als fünf Millionen Hektar, das sind rund 15 Prozent der gesamten Bodenfläche Deutschland. Knapp die Hälfte davon ist versiegelt, also asphaltiert, bebaut oder betoniert.Dieser Zuwachs erfolgte auf Kosten landwirtschaftlicher Flächen, was dem Problem eine globale Dimension hinzufügt: Wenn wegen schwindender Äcker weniger Lebensmittel hierzulande angebaut werden, müssen sie importiert werden. So ist Deutschland nach China und den USA der weltweit drittgrößte Nettoimporteur von Lebensmitteln. Nach dem von der Heinrich Böll Stiftung und dem BUND Naturschutz herausgegebenen und 2015 erschienenen Bodenatlas importiert Deutschland jedes Jahr Agrarprodukte und andere Verbrauchsgüter, die mit knapp 80 Millionen Hektar mehr als das Doppelte der eigenen Landesfläche anderswo in Anspruch nehmen, etwa im Globalen Süden. Wenn die Menschen dort nicht für ihre eigenen Bedürfnisse selbstbestimmt Essen anbauen können, sondern für den Export, stärkt das die Macht der Agrarindustrie und treibt die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft mit Monokulturen und hohem Einsatz von Düngern, Pestiziden und lizensiertem Saatgut voran. Das wiederum führt zu Waldvernichtung und Biodiversitätsverlust sowie zu Landraub, Ausbeutung, Armut und Hunger der lokalen Bevölkerung, zu Landflucht und Verstädterung.Genau eine halbe Stunde gehen wir durch das Naturidyll, am Fluss und den Auen entlang, dann wiederholt sich die eingangs beschriebene Szenerie am nächsten Ortseingang: Neubauten, Gewerbegebiet, ausufernder Asphalt. Natürlich ist es möglich, diesen Wahnsinn zu stoppen. Etwa durch Bestandsschutz und Modernisierung statt Neubau sowie einer Verkehrswende, die den Bau neuer Straßen und Autobahnen obsolet macht. Auch eine kleinteilige, regionale und ökologische Landwirtschaft würde Abhilfe schaffen. Allein: Unter kapitalistischen Verhältnissen werden gerade die naheliegenden, einfachen und drängendsten Lösungen niemals umgesetzt. Sie scheitern an Machtverhältnissen und Privilegien. Wie beim Klimawandel fallen der marktkonformen Demokratie auch für das Problem Flächenfraß nur marktorientierte Vorschläge ein: wie den Handel mit Flächenzertifikaten.Die Idee stammt aus dem Bundesumweltministerium: Beim Flächenzertifikatehandel erhielte jede Kommune, abhängig von ihrer Größe, jährliche kostenlose Zertifikate für Bauland. Wenn sie bislang ungenutzte Flächen zu Bauland umwandeln will, muss sie dafür Zertifikate einlösen. Hat sie zu wenig, muss sie zusätzliche Zertifikate von Gemeinden, die wiederum zu viele haben, kaufen. Wenn Kommunen Rückbauten vornehmen, könnten sie sogenannte weiße Zertifikate bekommen, mit denen sie wiederum handeln können. Ganz ähnlich der neoliberalen Idee des Europäischen Emissionshandels.Zertifikatehandel hilft nichtSo überrascht es wenig, dass ausgerechnet das arbeitgebernahe, von Unternehmensverbänden finanzierte Institut der Deutschen Wirtschaft den Modellversuch des Umweltbundesamtes eines Flächenzertifikatehandels begleitete und das Experiment für erfolgreich befand: das System schaffe „Anreize, um eine flächensparende Siedlungsentwicklung zu fördern und zu optimieren“. Gemeinden würden durch den Verkauf von Zertifikaten finanziell belohnt.Abgesehen davon, dass gar nicht geklärt ist, ob dieser Zertifikatehandel mit dem Grundgesetz und der dort garantierten kommunalen Selbstverwaltung überhaupt vereinbar wäre: Wie der Emissionshandel an die Zerstörung des Klimas gekoppelt ist, so ist auch das Dealen mit Flächenzertifikaten eine Einladung, mit Flächenfraß Geschäfte zu machen. Entweder die Gemeinde nützt ihre qua kostenloser Zertifikate zugeteilte Fläche, um sie zu bebauen, oder sie macht dieses Recht zu Geld, auf dass an anderer Stelle gebaut wird. Der Europäische Emissionshandel krankte nicht zuletzt daran, dass es Lobbyisten gelungen war, die EU dazu zu bringen, sehr viele kostenlose Zertifikate an die besonders schmutzigen Industrien zu verteilen. So rauschte der Preis in den Keller. Das wiederholt sich nun bei der CO₂-Abgabe, die in Kraft treten soll: Industriezweige mit besonders hohem Energiebedarf und solche, die im globalen Wettbewerb stehen, sollen von „zu hohen“ Kosten entlastet werden. Boden und Bauen sind äußerst lukrativ, wirtschaftliche Interessen stehen jetzt schon im Vordergrund – warum sollte es also beim Flächenzertifikatehandel anders laufen?Die Idee, man müsse der Natur und ihren „Dienstleistungen“ einen monetären Wert geben, damit es einen wirtschaftlichen Anreiz gäbe, sie zu schützen beziehungsweise Kosten und Nutzen ihrer Zerstörung abwägen zu können, hat viele Befürworter. Ihre Finanzialisierung geht allerdings mit Eigentumsfragen einher. Anstatt sie als Allgemeingut zu erhalten und zu sichern, werden Natur und Böden privatisiert. Und wie ausgemacht ist es denn, dass der Erhalt von Böden lohnenswerter ist? Wenn darauf ein Flughafen, ein Gewerbegebiet oder ein Hotel geplant ist – was ist dann wohl finanziell profitabler? Und für wen?Das macht das Marktinstrument Zertifikatehandel, sei es mit Emissionen oder Flächen, auch so problematisch: Es entpolitisiert die Frage, wie wir künftig gut zusammen leben, wohnen, essen und uns fortbewegen wollen. Boden ist keine Fläche, auf der beliebig Straßen, Parkplätze oder Gewerbegebiete gebaut werden können. Er ist unsere Lebensgrundlage.
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