Jeder Besucher der Ausstellung Thomas Ruff – Werke 1979-2011 im Münchner Haus der Kunst bekommt ein Kärtchen in die Hand gedrückt, auf dem von Ruffs Serie nudes die Rede ist, die er 1999 begann. „Diese Werke könnten Ihr moralisches Empfinden verletzen. Sie sind für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet.“ Tatsächlich besteht nudes aus branchenüblichen und entsprechend expliziten Stills von Pornovideos aus dem Internet, deren schlechte digitale Qualität Ruff zitiert, indem er ihre Verpixelung zum Thema macht. Je weiter man sich den Fotografien nähert, desto unkenntlicher wird ihr Inhalt, je ferner man steht, desto klarer treten die Strukturen heraus: Visuell eindrücklicher kann man das Prinzip der Erotik kaum ins Bild setzen.
Dass man die Münchner Retrospektive der Werke des 54-jährigen Becher-Schülers keinesfalls für verfrüht halten sollte, beweist sie selbst am besten: Die chronologische Schau macht nicht nur die Entwicklung des Fotografen augenfällig, sondern stellt auch Verbindungslinien her. Wo am Anfang die ornamentale Qualität der Gegenstände, der Gesichter und der Perspektive im Zentrum steht, beginnen mit den nudes Ruffs verschiedengestaltige Reflektionen über das Medium, die etwa in seine berühmte Serie jpeg mündeten. jpeg (seit 2004) handelt von der Digitalisierung der Fotografie; Bilder des kollektiven Gedächtnisses – wie 9/11 – werden als technische Effekte entlarvt. Statt des Objekts ist das Bild selbst zum Ornament geworden.
So erklärt sich die kluge Hängung der jpegs in konstantem Wechsel mit Bildern aus der Serie cassini, für die Thomas Ruff seit 2008 Aufnahmen der Raumsonde Cassini von verschiedenen Planeten derart bearbeitet hat, dass nunmehr die Strukturen als solche sichtbar sind. Die jpegs stellen das vermeintlich Nahe als fern vor, cassini das Ferne als unglaublich nah. Unendliche Tiefe als zweidimensionale Fläche.
Doppelklick statt Klick
Bemerkenswert in diesem Sinne ist Ruffs jüngste Serie m.a.r.s. (seit 2010): Sie basiert ebenfalls auf All-Fotografien – Ruff, so die Legende, schwankte zwischen einem Astronomie- und einem Fotografie-Studium –, macht jedoch alle Dimensionen unkenntlich, lässt die stellare Topografie dennoch merkwürdig vertraut erscheinen und verunmöglicht die Unterscheidung, was an diesem Bild echt und was bearbeitet, was nah und was fern ist.
Die nudes kennzeichnen die endgültige Abwendung von selbst fotografierten Bildern. Seither bearbeitet Ruff ausschließlich vorhandenes Material: Doppelklick statt Klick. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang 1996 mit den Plakaten, die beinahe klassische Collagen darstellen. Wenn auch die Buchstaben derart verdreht wurden, dass die übliche Reaktion des Nähertretens zu nichts führt, man vielmehr Abstand nehmen muss, um die Schrift lesen zu können.
Ruff widmet sich den Bildern der Anderen, um deren Medialität, deren Vermitteltheit in den Blick zu bekommen. Zu seinem Material zählen nicht nur Bilder aus dem All, sondern auch das Archiv einer Maschinen-Fabrik (Serie Maschinen, seit 2003) oder Comicbilder, die er so lange übereinander blendet, bis nunmehr eine amorphe Farbigkeit zu sehen ist (Substrate, seit 2001). Die Serie zycles wiederum – abstrakte Linien im Raum – braucht gar keine Fotografien mehr, sie wird von vorneherein auf dem Computer verfertigt: ein Selbstporträt der Maschine.
Thomas Ruff Werke 19792011 Haus der Kunst, München. Bis 20. Mai 2012, Katalog 58
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