Betreutes Lesen mit „viva!“

Medientagebuch Eine neue Ratgeberzeitschrift will Lesern über 50 Tipps geben, was sie mit ihrer Zeit anstellen können - und überrascht damit, wie sie ihre Zielgruppe zu erreichen meint

Nicht nur unter Post-Pubertären und Retro-Infantilisten, auch unter echten Erwachsenen finden sich eine Menge kaufkräftige, aber alltagsuntaugliche Menschen. Hofft zumindest der Verlag Gruner+Jahr und ergänzt seine Stern-Lebenshilfe-Reihe aus Neon und Nido deshalb um die Zeitschrift viva!, die laut Editorial „Ideen und Vorschläge“ liefert, was man jenseits der 50 mit seinem Leben alles Tolles anfangen könnte.

Eine neue Beziehung zum Beispiel. Die könnte man im Internet suchen, das ist sogar ziemlich cool: „Partner­suche kann lässig sein. Man legt sich abends mit dem Laptop oder iPad und einem Rotwein aufs Bett und klickt durch die Profile anderer Singles.“ Wo Lässigkeit ist, da lauern jedoch auch Gefahren! In Online-Singlebörsen etwa „bindungsgestörte Alfs und Ulfs“ oder „Ex-Gattinnen, die auf den nächsten Versorger hoffen“ oder gar „Männer und Frauen mit gefälschten oder geschönten Profilen, die in Wirklichkeit in festen Partnerschaften leben oder 40 Kilo wuchtiger sind als auf dem eingestellten Jugendbild“. Die Paare, die viva! vorstellt, weil sie sich durch das WWW kennengelernt haben, haben nochmal Glück gehabt. Und viel mehr haben sie nicht zu erzählen.

Satte vier Seiten lang darf man sich zudem anhören, dass es „nie spannender“ war, älter zu werden und sich gerade „Trendsetter, Kreative, Unerschrockene und Innovative“ aufmachen, „das Alter neu zu entdecken und zu definieren“. So folgt in freilich gut verdünnten Dosen im Heft ein rhetorisches Aufregerchen auf das nächste.

herzrhythmusstörend

Der Schauspieler Axel Milberg habe seinen Beruf „von der Pike auf“ gelernt, heißt es im viva!-Porträt, nämlich „auf einer traditionellen Schauspielschule, wo sie sonderbare Dinge tun, fechten zum Beispiel“. Und jetzt ist er Tatort-Kommissar: „Die Reihe ist die Formel 1 im deutschen Teledrom.“ Auch in Kassel steppt gerade der Bär, denn bald ist Documenta, und das ist total spannend: „Jeder Lastwagen könnte jetzt ein Kunsttransport sein, und jeder Fremde, der am Bahnhof Wilhelmshöhe aus dem Zug steigt, einer der Künstler, auf die bald die ganze Welt blickt.“

Nicht minder herzrhythmusstörend wirkt der Artikel über einen alkoholischen Abend mit Eckart Witzigmann, dem „wahrscheinlich radikalsten Champagnertrinker des deutschen Sprachraums.“ Erst öffnet der Kellner die Flasche „mit dem Appetit, mit dem man einer Frau aus dem Mantel hilft“, am Ende empfiehlt der Autor „hohe schlanke Flöten“ für den perfekten Genuss, denn die „sind wie lange Beine in kurzen Röcken – hinreißend und zeigen die Perlage am besten.“

Und dann ist da noch die viva!- Cartoon-Rubrik „Ach …“, deren Auftakt einen Selbstmörder zeigt. Davor steht einer und sagt zur anderen: „Ich meine, was hättest du gemacht, wenn auf deinem Konto plötzlich nur noch 2 Mio. wären?!“ Eben. Beziehungsweise: Davon hätte man sich immerhin die von viva! angepriesenen Seereisen – „Irgendwann muss sie sein, die große Fahrt auf einem edlen, weißen Schiff“ – leisten können!

Dass die 42 Prozent der Leute, die laut einer viva!-Statistik im Alter finanzielle Probleme fürchten, für die Redaktion dieses Magazins von wenig Interesse sind, ist keine Überraschung. Wie einfalls- und lieblos sich Zeitschriften an ihre pekuniär potente Zielgruppe heranwanzen, dagegen schon. Wer keine zwei Millionen auf dem Konto hat, darf sich glücklich schätzen: Er muss sich von viva! nicht für dumm verkaufen lassen.

Katrin Schuster schrieb im Freitag schon über Nido, nicht aber über Neon. Offen ist, welche Altersgruppe als nächste ein eigenes Lebenshilfemagazin bekommt

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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