Der Leser schreibt mit

Ko-Autorschaft Aushilfssekretäre gesucht: In Frankfurt diktiert der Schriftsteller Peter Kurzeck seinen neuen Roman, und zwar jedem, der ihm dabei helfen möchte.

Meistens ist von fünf, manchmal auch von acht Jahren die Rede, die Peter Kurzeck an seinem Roman Vorabend arbeitete. Nun ist er fast fertig, es fehlen nur noch die letzten paar Seiten. Und in Form gebracht wurde das aus rund 1200 Seiten bestehende Manuskript auch noch nicht; es ist durchsetzt von Anmerkungen, Unterstreichungen, Einfügungen, die kein OCR-Programm (OCR steht für „Optical Character Recognition“ und meint die automatische Erkennung von Text/Zeichen in Bildern) je in einen lesbares Dokument verwandeln könnte.

Bibliotheken geben solche und ähnliche Transkriptionen gerne außer Haus, meist nach Asien, weil es da nunmal billiger ist. Aber auch das kommt für Kurzecks Verlag Stroemfeld vermutlich nicht in Frage. Und der Autor selbst sieht sich ebenfalls außerstande, diese Arbeit zu übernehmen. „Wenn ich jetzt noch einmal anfangen würde, selbst eine Reinschrift zu machen, dann würde ich mich für Jahre und Jahre nochmal darin verirren“, sagt er. Deshalb gibt Kurzeck die Autorität übers Schreiben nun aus der Hand und beschränkt sich aufs Lesen: Seit Mitte Juli und noch bis zum 17. September diktiert er von Montag bis Freitag je von 10 bis 16 Uhr seinen Roman im Matthias-Beltz-Raum des Frankfurter Literaturhauses. Man kann ihm dabei zusehen oder selbst mitmachen: Der Verlag sucht weiterhin Freiwillige, die zeitweise zu Kurzecks Sekretär/in avancieren wollen und sich ans Laptop setzen, um ihren Teil zu dem Werk, das am Ende etwa 800 Druckseiten umfassen soll, beizutragen, an ihm mitzuschreiben. Eine etwas andere Variante des User Generated Content.

Originelle Spuren

So überraschend dieses Projekt klingen mag, so typisch ist es dann doch für den Stroemfeld Verlag, der seit 1975 nicht mehr durch jene bei der Gründung 1970 eigentlich angeplanten „Kampfbroschüren“, sondern vor allem durch aufwändige Faksimile-Ausgaben von Kafka, Hölderlin, Keller, Walser (Robert) auf sich aufmerksam macht. Die auktoriale Handschrift will der Verleger KD Wolff offenbar nicht aus den Augen lassen – auf dass die Spuren des Subjekts weiterhin lesbar bleiben, auch in der gedruckten Form, deren Aufgabe es ja üblicherweise ist, genau diese Individualität durch Normierung per Seitenzahlen und einheitlicher Typografie zu tilgen.

Das passt freilich gut zu Peter Kurzecks Roman Vorabend, der laut eigener Aussage des Autors von Anfang an als (angeblich) unvorhergesehenes Ereignis daherkommt: „Am Ende des Oktober-Buches sitzt der Erzähler am Tisch, mit sich selbst, wartet, ob seine Lebensgefährtin nochmal in das Zimmer reinkommt, oder ob sie vielleicht schon seit Stunden schläft, und damit hört das Buch auf. Und dann sollte eigentlich das nächste Buch dort weitergehen, wo Ein Kirschkern im März geendet hat. Und statt dessen aber ist mir dieses Buch Vorabend dazwischengekommen, das heißt der Erzähler sitzt immer noch am Tisch, lang nach Mitternacht, ist müde, möchte ins Bett gehen und muß sich erinnern an ein Wochenende, ein Jahr vorher, nämlich im Oktober ’82, er sitzt da also im Oktober ’83, erinnert sich an den Oktober ’82, an ein langes Wochenende, an dem er seinen Freunden, nämlich seinem Freund Jürgen und dessen Lebensgefährtin Pascale, und zugleich seiner eigenen Tochter Carina und der Sibylle, mit der er zusammenlebte, der Mutter seiner Tochter, seiner Geliebten, vom Dorf seiner Kindheit erzählte, in einem sehr sehr langen, eigentlich auch zunehmend atemlosen Monolog – und das ist das Buch Vorabend.“

Bei dieser Gelegenheit noch ein Hinweis: Der Stroemfeld Verlag feiert in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag, weshalb es ab dem 13. August in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt eine Ausstellung über die so bewegte wie bewegende Geschichte des Verlags zu sehen gibt.

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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