Die Stimmen der Anderen

Randgänge Wie gibt man denen eine Stimme, die in dieser Gesellschaft keine haben? Katrin Schuster bespricht neue Hörbücher zum Thema Parallelgesellschaft

Wenn einer jenen eine Stimme leiht, die in dieser Gesellschaft keine haben, kann man das ja nicht nicht gut finden. Und genau das ist das Problem des Hörbuchs Illegal von Polle Wilbert, dem Alter Ego des schriftstellernden Dramaturgen Björn Bicker: das ach so betroffene und deshalb nurmehr zynische Kopfnicken, das es einfordert. Illegal ist die akustische Version eines Buches, das wiederum auf einem Theaterstück von Bicker-Wilbert beruht.

Das Dokumentarische diente dem Autor eh nur als politisch brisante Etikettierung: Von den Interviews, die er mit illegal in Deutschland lebenden Ausländern führte, ist außer ein paar inhaltlichen Fakten nichts geblieben, da Bicker daraus eine disparate Collage biografischer Bruchstücke bastelt, die sich poetisch anhört, aber nichts zu sagen hat. Aus dem Schweigen der Illegalen wird bei Bicker ein semantisches Stottern: „In Deutschland leben. In Deutschland leben viele. In Deutschland leben viele Touristen.“ Eine solche anaphorische Reihe mag recht klangvoll sein, bedeutet aber zuallererst, dass Bicker die Stimmen der Anderen in den Dienst der eigenen Rhetorik und Ästhetik stellt.

Entsprechend kommt Rassismus kaum vor, gefährlich sind nur die anderen Ausländer, vor den Deutschen hat man keine Angst, man lacht stattdessen über sie beziehungsweise „fickt ihre Männer“. Was für eine adrette Oberfläche: Zwischendrin spielt die Münchner Band Kamerakino ein paar cool-schräge Songs, die Schauspieler sprechen die Texte gleichsam unbeteiligt, wenn einer einmal überraschend zu schreien beginnt, dann klingt das nicht weniger distanziert.

Die Geschichten Einzelner verschwimmen zu einem gleichförmigen Monolog, das ewig wiederkehrende „Wir“, dessen Individuen selten Namen tragen und als solche also von wenig Interesse zu sein scheinen, beherrscht den Diskurs. Voilá die Parallelgesellschaft, die hierzulande so eifrig herbeigeredet wird: ein sinnfreier Haufen lauter echt krasser Geschichten, die kurzweilig sind, aber bestimmt niemanden behelligen.

Illegal. Polle Wilbert. Intermedium Records, 1 CD, ca. 62 Min., ca. 19,99 E

In Illegal. Berichte aus dem Untergrund von Mirjam Neidhart, dem ebenfalls ein Theaterstück zugrunde liegt, sind die einzelnen Biografien prägnanter, weil die Autorin sie in Momenten der Verdichtung vorstellt. Iami zum Beispiel, die fürchtet, bei einem Sturz habe sich das Baby ihrer Gastgeber verletzt, sich aber mangels Deutschkenntnissen nicht verständlich machen kann und folglich nicht ernst genommen wird. Sprachlosigkeit erscheint nicht als Stottern, sondern als Verstummen, von dem sich allerdings erzählen lässt.

Die Menschen bleiben hinter den Schauspielern als Individuen präsent, weil die Stimmen identifizierbar sind und sowohl Selbstbewusstsein als auch Unsicherheit hörbar machen. Zudem tragen die Kapitelüberschriften die Namen derjenigen, von denen hier die Rede ist: Ruga, Ruben, Lucy, Bascha, Andrea, Valery. Szenenweise lernt man diese als so exemplarische wie einzigartige Fälle kennen, keiner davon wird im Laufe des Stücks aus dem Auge verloren. Die Anverwandlung ist eine empathische Mimesis, um die herum Stille herrscht; die einzige Musik auf diesem Hörbuch stammt von einer Spieluhr: So bringt Neidhart ihr Thema dem Zuhörer nahe, indem sie versucht, dessen Kindheitserinnerungen anzusprechen.

Denn ihr geht es nicht um eine angebliche Parallelgesellschaft, sondern um das Mit- und Nebeneinander von In- und Ausländern. Dabei weiß Regisseur Peter-Jakob Kelting auf schlichte, aber effektvolle Weise den Raum in Szene zu setzen, und selbst der Zwang zum Rollenspielen – oder anders: die Schwierigkeiten der Integration – wird reflektiert, und das nicht nur auf der Seite der Illegalen.

Auch essayistische Abwege hat Mirjam Neidhart nicht gescheut, mehrere Kapitel tragen die Überschrift „Handschellen“, ein anderes heißt „Hände“, ein weiteres diskutiert den Begriff des Legalen in einem Gespräch zwischen Polizisten. Dann, am Ende nähern sich Schritte – und der Zuhörer fühlt sich selbst plötzlich einsam und bedroht.

Illegal. Berichte aus dem Untergrund. Mirjam Neidhart. Christoph Merian Verlag, 1 CD, ca. 40 Min., ca. 12 E


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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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