Wild Mind - Charlotte stellt sich sich

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Vorweg:

Ich habe alle Blogbeiträge in der FC zum Buch gelesen.

Den Brief von Alice Schwarzer habe ich gelesen.

Die Interviews habe ich mir (aus Gründen!) gespart.

Nun legte ich heute selbst los. Das Buch zu lesen schaffe ich nur in der Bahn und in der Mittagspause, denn eigentlich sitze ich gerade an einer wissenschaftlichen Arbeit, meiner Abschlussarbeit, Thema Bildungsstandards. Doch die Abwechslung kommt mir willkommen.

Zur Sache:

Die Sex-Szene am Anfang gilt ja jetzt schon als Hürde und trägt wahrscheinlich schon gut zur Legendenbildung bei. Mir, als nicht gerade pornoaffiner Frau, in der Bahn sitzend so etwas reinzuziehen, das war schon nicht so ohne. Aber ich grinste viel, trotz aller Verklemmtheit, die ich - es Charlotte, äh Elisabeth gleich tuend - ebenfalls nicht unerwähnt lassen möchte.

Wo wir auch schon bei der Metadiskussion wären. Nach 32 Seiten ist mein Eindruck folgender: Das Buch ist eine Therapie. Ich kenne und nutze diesen Effekt selbst: In meiner Kolumne packe ich nicht selten diejenigen Themen an, die mir selbst am meisten Kopfzerbrechen bereiten oder wo ich mich überwinden muss, oder wo ich die Klugheit derjenigen, die sich vermutlich hinterher in die Debatte einmischen, nutzen möchte, an einem schwierigen Thema voranzukommen. Dann überwinde ich mich, dahin zu denken und darüber zu schreiben, wovor ich - und ich weiß es ziemlich sicher: auch viele meiner LeserInnen - mich am liebsten rumdrücken würde. Über Scham zum Beispiel. Nicht selten setze ich mich auch zum Schreiben (meistens allerdings zum Schreiben für mich selbst, nicht für die Öffentlichkeit) in ein Kaffee und mache das, was Natalie Goldberg in ihrem Buch "Wild Mind - Freies Schreiben" empfiehlt: Setz dich, nimm einen Stift in deine Hand, setze dir ein bestimmtes zeitliches Limit und dann leg los. Halt den Stift niemals still! Das wird unreflektiert, manchmal schamlos, peinlich, sprachlich häufig nicht sehr tief - aber gnadenlos. Überarbeitet wird es hinterher. Doch es ist unübertroffen direkt und die Schonungslosigkeit davon hat einen geradezu therapeutischen Effekt.

So stelle ich mir Charlotte Roche beim Schreiben dieses Buches vor. Und der Effekt ist sicherlich ein ähnlicher: Sie stellt sich ihren Ängsten. Sie stellt sich sich. Gnadenlos. Ähnlich wie bei meiner Kolumne wird das Feedback in diesem Spiel manchmal unterschätzt: (Auf-)Leben in der Auseinandersetzung mit dem Feedback. Selbstjustierungshilfen nenne ich das. Wird ein Artikel von mir einmal nicht kommentiert - oder steht darunter nur Positives - fehlt mir direkt etwas (*wink mit dem Zaunpfahl*).

Ob dieser Roman nun autobiografisch ist oder nicht, und wenn ja: zu wie viel Prozent. Ob das "authentisch" ist, oder nicht. Ob politisch korrekt, literarisch brillant, gesellschaftlich relevant, feministisch "genug" - im Ernst: Wer das Buch mit all solchen Fragen im Hinterkopf liest, hat IMHO hier schon verloren, da ihm/ihr der einfache Effekt einer Geschichte für die Reflexion der eigenen kleinen, dummen, banalen Geschichte verloren geht.

Mich hat sie damit längst. Meine Sympathie ist ihr sicher, denn ich liebe nichts mehr, als wenn Menschen einfach ihre Geschichten erzählen. Das muss ich dann auch nicht bewerten und beurteilen. Das les ich einfach weg. Und denke: Danke fürs Teilen. Sie nennt sich ja selbst "verklemmt" - bzw. Elisabeth nennt sich so - und das ist der Zauber: Liest man die erste Sex-Szene, so ist von Verklemmung keine Spur. Da hat jemand einfach mal alles rausgelassen und sich überwunden. Ob das nun für eine Gesellschaft wie die unsere - verklemmt eben - nun besonders wertvoll ist - das interessiert mich nicht. Oder ob das authentisch ist. Pfff.

Daneben kommen etliche persönliche Abrechungen mit der Mutter, die völlig undifferenziert und auch ein bisschen unfair sind. Gleiches mit Alice Schwarzer. Da muss diese wohl durch. Der Stil ist wie in Feuchtgebiete recht einfach, gut lesbar. Einfach weg, raus damit, vom Herzen geschrieben. Die gesamte Auseinandersetzung damit, wie sie "darstellt" eine gute Mutter zu sein, könnte mir als eingefleischter Feministin die Haare zu Berge stehen lassen. Tut es aber nicht. So ist das eben. Diese Geschichte ist eine Geschichte - schon nach 32 Seiten habe ich das Gefühl, dass die meisten Leute viel mehr darin sehen und sich an Überinterpretationen übertreffen wollen. Eine Geschichte ist das. Es macht sogar Spaß, sie zu lesen. Bis jetzt. Ich bleibe dran.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Katrin Rönicke

ich bin... einfach so; ich bin nicht... so einfach

Katrin Rönicke

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