30 tage ohne oben (12)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 18 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Als ich mich gestern am späten Abend auf den Weg ins Zentrum meiner Stadt begab, war schon wieder alles anders. Seit Montag sind die Straßen rot. Feuerwehren. Sie parken überall. Hier findet so eine Art Feuerwehr-WM oder so etwas statt, und die Kameraden, die man beim Durstlöschen sehen kann, strahlen Zuverlässigkeit aus: groß, kräftig, gruppenweise. Sie wirken sehr befreundet.

Als ich den zentralen Platz erreichte, überraschten mich Würstelbuden, Bierstände und eine riesige Leinwand. Menschen über Menschen. Fußball? Nein: Bachfest. Nun auch noch. Die Damen und Herren im Publikum strahlen Beständigkeit aus: bekleidet, kultiviert, gruppenweise. Sie wirken sehr entspannt.

Vom Studentenkeller dringt Lärm herüber. Fernsehkommentatoren analysieren das Eröffnungsspiel. An den Tischen die Fußballfans strahlen Zukunft aus: jung, trunken, gruppenweise. Sie wirken sehr begeisterungswillig.

So kommt es, dass die Innenstadt in diesen Tagen nicht nur gesteckt voll ist, es sind vor allem Gruppen, denen nicht zu entkommen ist, die kaum zu umrunden sind. Wenn ich aber doch Wege zu erledigen habe, gibt es nur zwei Lösungen: Ich kann mich in die Gruppen schmuggeln und mit ihnen durch die Straßen spülen lassen, bis ich mein Ziel erreicht habe. Unter den Feuerwehrmännern würde ich vielleicht schnell auffliegen. Unter den WM-Jüngern sowieso. Allein unter den Bachfestbesuchern gibt es eine Chance, vorausgesetzt, es ist kein Schwung Japaner.

Oder aber ich gründe selbst eine Gruppe, in deren Mitte ich mich tragen lasse. Ich könnte sie „Schickt Wulff nach Brüssel“ nennen. Muss aber nicht.

Allerdings hadere ich mit der Mitte, die ich mit Durchschnitt assoziiere, seitdem sie Merkels Mantra ist. Mittelwert, Mittelweg, Mittelmaß. Mir sind die Spitzen und die Wurzeln wichtig, so wie die Proportionen zwischen oben, unten und dazwischen. Meine Mitte stärke ich zwar auch, am liebsten mit Kuchen und Bratwurst, würde sie jedoch ungern allein lassen. In diesen Stunden, da schon die Mitte Berlins verwaist ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden