30 tage ohne oben (9)

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Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 21 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Ich gebe es zu: Ich bin undankbar. Vor einer Woche noch habe ich mich nach dem Wetter gesehnt, das nun eingetroffen ist. Und schon verfluche ich es. Das hat einen einfachen Grund: Mir sind die meisten Menschen bekleidet lieber. Es ist aber so, dass, wenn die Temperaturen eine magische Grenze von – sagen wir mal – 25 Grad Celsius übersteigen, die Obertrikotagen vieler, zu vieler Leute meiner unmittelbaren Umgebung quasi in der Sonne schmelzen.

Nicht selten betrifft das jene, deren Körpergewicht die magische Grenze von – sagen wir mal – 80 (Frauen) bis 120 Kilo (Männer) – schon vor drei Silvestern überschritten hat. Ich bin dagegen, in diesen Konfektionsgrößen überhaupt Hotpants, Tägerhemdchen oder Outdoor-Unterkleider (weich fließend) herzustellen. Und übrigens auch keine Leggings.

Am Strand und so geht das in Ordnung, da kann's von mir aus rundum ohne sein. Aber in der Straßenbahn möchte ich nicht mit Dekolletés konfrontiert werden, deren Obendrüber ich sieze. Ich will die Problemzonen fremder Mitbürger nicht so schonungslos offenbart bekommen. Mal abgesehen davon, dass Stoffe den Körper hervorragend kühlen. Vor allem an jenen Stellen, an denen sie ihn bedecken (bedecken, nicht mit ihm verschmelzen).

Vielleicht bin ich etwas gereizt heute. War spät gestern. Wir haben Roberts 200sten gefeiert, ganz so, wie der Kulturstaatsminister es sich wünscht: gesamtdeutsch. Bier aus Sachsen, Wein aus der Pfalz, Gespräche wichtig. Schumanns Werk nämlich sei ein „wichtiges gesamtdeutsches“. Ja was denn sonst? Ein sächsisches, weil der Zoni in Zwickau geboren wurde? Da muss man erstmal drauf kommen. Schumann! Gesamtdeutsch! Es hätte doch niemand die Merkelin als Westdeutsche (Hamburg) in Verdacht, und keiner verankert den Köhler in Polen (Skierbieszów).

Apropos Merkel. Für ihre Zukunft fand der Urban Priol gestern in „Neues aus der Anstalt“ schöne Worte: Die Anstalt macht jetzt Sommerpause, „vielleicht sehen wir uns vorher wieder in vier Wochen mit einem Anstalt-Spezial zum Rücktritt der Kanzlerin". Vergleichbare Gedanken waren bereits aus Georg Schramms Jäger-Weisheit herauszuhören: "Bei einer Treibjagd hat die Bache keine Chance."

Den Siedepunkt aber erreichte Schramm in seiner Wut aufs Sparpaket: "Wer ist denn am schärfsten betroffen? Die Hartz-IV-Empfänger sind es, es werden die Arbeitslosen sein, es werden die Familien sein. Dafür werden bei uns Sozialleistungen gekürzt, damit die FDP bei Laune gehalten werden kann. Damit die Kanzlerin keine Niederlage erleidet, wird bei uns ein ganzes Gesellschaftssystem aufs Spiel gesetzt." (sinngemäß)

Das, ich gebe es gern zu, hätte er von mir aus auch in Turnhosen sagen können.

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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