Als wäre morgen gestern heute

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es ist jetzt 8136 Tage her. Rund 195 230 Stunden. Mehr als 11 715 800 Minuten. Nichts Rundes also, dass es zu bejubeln gilt. Und dennoch: Seit dem Mauerfall wurde nicht derart vielfältig und publikumswirksam über Ost vs. West nachgedacht, gelesen und debattiert wie in der vergangenen Woche. Und hier geht es mal nicht um einen Bürgerrechtler aus der DDR, der keiner war. Es geht um die Ankunft der Reflexion in Texten und Theatersälen.


Gut dran ist, wer über sich selbst lachen kann. Der hält Holger Witzels Pöbeleien aus. „Schnauze Wessi“ heißt die Sammlung von Kolumnen, in denen der Stern-Redakteur online den Landsleuten erklärt, warum sie dort nicht ankommen, wo sie nicht herkommen. Und er stellt klar, dass Ossis keineswegs daran zu erkennen sind, dass sie eine Stasi-Akte unterm Arm tragen: „Ein leiser Seufzer, ein vielsagender Blick, alles klar. Es hat nach 20 Jahren nichts mehr mit der Mode und nur noch selten mit Dialekten zu tun: Wir fallen einander auf, weil wir nicht weiter auffallen, was den anderen vermutlich nicht mal auffällt, weil sie damit beschäftigt sind aufzufallen.“ Auch darüber hinaus hat Witzel natürlich mit jedem Wort recht.

Während Witzel weniger über die DDR schreibt als vielmehr darüber, wie es nach deren Ende in den „annektierten Bundesländern“ zugeht, scheint sie auf Theaterbühnen aufzuerstehen, wie sie gewesen sein könnte. Wenngleich in der Erinnerung. „Schubladen“ überschreibt das Theaterkollektiv She She Pop den Abend, der am Berliner HAU 2 Premiere feierte. Da geht es um eine kollektive Biographie, die sich aus Details zusammensetzt. Und natürlich aus Klischees. Sechs Schauspielerinnen erzählen einander ihre Geschichten. Dass es dafür noch lange nicht zu spät ist, im Gegenteil, dass dies womöglich bislang viel zu selten geschah, könnte eine der Botschaften sein. Mögliche Gründe dafür sind wiederum bei Holger Witzel nachzulesen: „Das scheint überhaupt das Schlimmste für sie (Wessis) zu sein: Bei irgendetwas mal nicht mitreden zu können.“

Ein Ostjugend-Erinnerungstryptichon ist Fritz Katers Stück „zeit zu lieben zeit zu sterben“, von seinem Alter Ego Armin Petras 2002 in Hamburg uraufgeführt. Nun hat es Antú Romero Nunes am Maxim Gorki auf die Bühne gebracht.

Am neuen Theater in Halle wiederum erlebte Lutz Hübners Stück „Frau Müller muss weg“ Premiere – in dem die Eltern von Viertklässlern deren Lehrerin absägen wollen, weil sie Angst haben, dass es ihre Sprösslinge sonst nicht aufs Gymnasium schaffen. Auch hier prallen West- auf Ostsozialisationen, in diesem Rahmen aber geht Hübner über das Klischee der Latte-macchiato-Mutti nicht hinaus, deren Montessori-Sohn den Klassenbesten verprügelt und ansonsten durch ADS auffällt.

Und in der Literatur? Am Wochenende sollte im Leipziger Horns Erben der 3. Werner-Bräunig-Literaturpreis vergeben werden. Der wird ausgelobt von der ortsansässigen Autorenschule Textmanufaktur und dem Aufbau Verlag; er ist dotiert mit 5000 Euro, die sich als Vorschuss auf eine Veröffentlichung verstehen. Und da liegt das Problem. Von sechs Finalisten-Texten einen am besten zu finden, wäre sicher möglich gewesen. Doch sah die Jury offenbar keinen davon im Buchladen. Zur Jury gehörten diesmal die Schriftstellerin Ulrike Draesner, der Literaturkritiker Hubert Winkels und Aufbau-Geschäftsführer René Strien. Sie vergaben keinen Hauptpreis, sondern erkannten jedem Teilnehmer 500 Euro zu.

In den Jahren zuvor saßen mit Angela Drescher oder Gunnar Cynybulk auch Lektoren in der Jury. Weil der für diesmal vorgesehene Andreas Paschedag zum Berlin Verlag bei Bloomsbury wechselt, sprang Strien ein. Und der hat, sagt André Hille, eher die Verleger-Sicht. Lektoren aber sind ebenso wie am Ergebnis schon am Entstehungsprozess eines Buches interessiert. Allein Gitta Mikati hat ihren Kriminalroman „Asyl“ schon abgeschlossen. Sie gewinnt den von 500 Euro begleiteten Publikumspreis.

Wenn Draesner abschließend von einer „starken Gleichrangigkeit“ der Finalisten spricht, kann das als Euphemismus verstanden werden. Ebenso Winkels’ Zusammenfassung: „Alles Erfahrungen von Menschen, die aus dem Westen sich den Osten aneignen. Via Berlin“. Kerstin Campbell entwirft für „Kellerbeats und Kohlenstaub“ am Reißbrett eine Jugend im Jahr 1990 in Berlin. Nicola Nürnberger nimmt die „Westschrippe“ zum Anlass, auf Back-Kultur und deutsch-deutsche Klischees zu schauen. Gitta Makati verlegt einen Teil ihrer Krimi-Handlung ins geteilte Berlin der späten 70er Jahre. Claas Cordes gelingt die psychologisch genaue Charakterstudie eines Ostberliner Biologen.

In Häufung und Aufbereitung wie bei diesem Wettlesen nervt das Ost-West-Thema dann doch. Hier zu spät, da zu naiv, dort zu kalkuliert. Allein Susanne Becker und Jan Himmelfarb heben sich ab mit Familiengeschichten, die wahrhaftig klingen, in denen Tragödien lauern. „Die Meilensteine meiner Mutter splittern nicht“, liest Himmelfarb. Und Becker: „Das Leben ist nicht dazu da, dir deine Träume zu erzählen“.

Es ist nun 8136 Tage her. Bleiben die berühmten Gorbatschow-Worte in der richtigen Übersetzung, wie Holger Witzel sie zitiert: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“

(zuerst unter www.lvz-online.de)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden