Gans oder gar nicht

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In diesem Jahr will sich kein Adventsgefühl einstellen. Bei offenem Fenster in T-Shirt am Küchentisch zu sitzen, macht es nicht leichter. Hinzu kommen Ereignisse, die erschüttern. Wer kann an Lametta denken, wenn die deutschen Jungs in die „Todesgruppe“ der Fußball-EM gelost werden? Und was, wenn auch die Weihnachtsbotschaft nur von zu Guttenberg gefälscht ist?

Du musst mal raus, in die Stadt, unter Leute, sagt A. Einen Versuch ist es wert. Draußen in der Westvorstadt ist Kunst- und Trödelmarkt. Auf offener Straße gibt es selbstgebastelte Lampenschirme und getragenen Kindersachen. Natürlich auch Bio-Crepes und vegane Hot-Dogs. Es nieselt, statt nach Räucherkerzchen riecht es nach Joints. Und es mangelt erheblich an Kitsch.

In der Weihnachtszeit läuten die Englein zur Stunde der Wahrheit. Es geht um echte Kerzen am Baum oder elektrische, Lametta oder Strohsterne, Kirche oder Club. Und noch viel wichtiger: grüne oder geschwefelte Klöße? Stollen mit Rosinen oder ohne? Gans oder Ente? Vegan oder gerupft?

Da gelten das Recht der Gewohnheit und die Macht der Tradition. Wer aber glaubt, das alles habe zuerst mit der Geburt jenes kleinen Erlösers zu tun, irrt schwer im Rahmen dieses saisonalen Glaubens.

Wobei schwer schon das Stichwort ist. Nennen wir es Hüftgold, Polster oder Winterspeck, aber machen wir uns nichts vor. Advent und Weihnachten machen vor allem eins: fett. Und Fett macht müde, träge, lahm. Weil es immer länger dauert, dieses Ziel zu erreichen – das wachsende Körperbewusstsein lässt manchen nur gebremst zugreifen – begibt sich das Eigentliche weit vor der Zeit.

Dominosteine, Lebkuchen und Schokomandeln liegen Anfang September in den Läden. Und spätestens am Totensonntag schwer im Magen. Dabei klingen Quarkbällchen, Plätzchen oder Kräppelchen so harmlos niedlich. Darauf einen Kräuterschnaps! Und einen Glühwein sowieso.

Silvester ist es dann soweit, da liegt das Kind nicht länger in der Krippe sondern im Brunnen. Wenn die Bluse spannt und der Hosenbund kneift und der Blutdruck Jahresurlaub nimmt, dann fallen den Niedergestreckten keine anderen Wünsche mehr ein als: Weniger rauchen. Weniger essen. Weniger saufen.

Niemand plant nach Weihnachten eine Revolution. Mehr denken. Mehr ändern. Mehr tun? Solche Gedanken würden sich erst Ostern wieder Bahn brechen, schlüge den vom Fasten Entkräfteten nicht erneut die Stunde der Wahrheit: Hase oder Lamm? Osterfeuer oder Osterwasser? Eier gekocht oder Eierlikör? Die sich anschließende Bikini-Diät endet schon bald vor dem Lebkuchen-Regal.

Und still schließt sich der Jahreskreis.

(Dieses Blog ist zuerst erschienen unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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