Glühschicht

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Na toll, denkt K. Ruprecht. Die ganze Stadt schläft, und ich hab Frühschicht. In drei Stunden geht die Sonne auf. In der Straßenbahn ist K. fast der Einzige Richtung Innenstadt. Er setzt sich zu G. Vater, dem Fahrer. Sie teilen sich eine Flasche “Club-Mate” mit Schuss. Die beiden kennen sich schon eine halbe Ewigkeit.

Na, ruhige Nacht gehabt?, fragt K..
Geht so, sagt G., eine Hochschwangere und drei Kiez-Könige.
Betrunken?
Nö, nur orientierungslos irgendwie.
Mein Gott, das ist ja wie Weihnachten.
Du musst es ja wissen, brummt G., und lässt ihn raus.

K. Ruprecht weiß es. Seitdem der Weihnachtmarkt rund um die Uhr geöffnet hat, ist er im Schichtdienst unterwegs. Sinnlos eigentlich, denn in seinem Zeitarbeitsvertrag steht: “Kinder erschrecken, trösten, Foto machen. In dieser Reihenfolge.” Dafür lässt sich K. ab August einen Bart stehen. Vor Jahren schon hat er aus dem Nachlass des Schauspielhauses einen roten Mantel abgezweigt und überdies ein paar Stunden Stimmbildung bei Gunther Emmerlich genommen.

Tagsüber läuft die Sache ganz gut. Da sind ausreichend Kinder auf dem Weihnachtsmarkt. Seit sie ab Totensonntag Schulfrei haben, gibt es Stände für Apps, ein Cyber-Mobbing-Kabinett und eine Muckibude. K. ruft ihnen Sätze zu wie: “Dein Onkel ist Dein Vater!” oder “Du bist zu fett, um cool zu sein!” oder “Ich hab Dein Facebook-Profil gelöscht!” Je nach Altersgruppe. Da weinen sie oder schießen auf ihn oder rufen ihren Anwalt. Je nach psychosozialem Hintergrund. Dann macht er ein Foto und stellt es ins Internet.

Doch die meisten von denen sind 4 Uhr morgens noch im Heim. Um diese Zeit ist nur an den 42 Glühweinständen was los. Hier stehen Tag und Nacht die echten Weihnachtsbrauchtumspfleger. Sie tragen Rentier-Geweihe und rauchen Zimtkerzen. In ihren Augen leuchten tausend Dome wie ein Stern. Komplette Betriebsweihnachtsfeier-Kollektive sollen hier schon hängengeblieben sein.

Nachdem Glühwein Weltkulturerbe wurde, hat die Stadt auf dem Markt Fußbodenheizung gelegt, Duschcontainer aufgestellt und W-Lan eingerichtet. K. ruft den Leuten Sätze zu wie “In meinem Bart ist eine Bombe!” oder “Du trinkst zu wenig, um Klaren zu denken!” oder “Ich habe Deine Online-Bank gestrichen!” Je nach Ausstrahlung. Da lachen sie oder geben ihm einen Glühwein aus oder schlagen ein Geschäft vor. Je nach Pegel. Dann macht K. ein Foto und stellt es ins Internet.

Die Leute von den Glühweinständen mögen K., er erinnere sie an jemanden, sagen sie … Und einem ist es dann eingefallen, an wen: an den Sozialarbeiter drüben vom Feuerzangenbowlen-Stand.

(zuerst erschienen unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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