Niemandsland in der Niemandszeit

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Zugegeben, der erste Impuls ging in eine andere Richtung. Als im Konsum der Blick auf die „6 Festtagseier“ fiel, hartgekocht und rot-gülden glänzend, tauchten Wörter wie „Schwachsinn“, „Konsumterror“ oder „Überfluss“ am Gedankenhorizont auf und ein in Sinnzusammenhänge rund um die These „Die ham se doch nicht mehr alle!“.


Dann aber brach sich ein Gefühl Bahn, wie es nur in jener Zeit zu finden ist, die viele gern „zwischen den Jahren“ nennen. Da der Konflikt zwischen römischem Amtsjahr und christlichem Kirchenjahr beigelegt zu sein scheint, kann man auch Jahresende dazu sagen oder schlicht: Frieden.

Diese Tage zwischen Weihnachten und dem 6. Januar sind die freundlichste, entspannteste, toleranteste Zeit des Jahres. Nichts ist wirklich wichtig, nichts scheint wirklich schlimm. Die größte Herausforderung liegt darin, Sekt für Silvester zu besorgen.

Die Stadt liegt wie ausgestorben, in der Tram ist morgens um 11 Uhr ein Sitzplatz frei, obwohl die eine oder andere Bahn mit einem Waggon weniger fährt. Es gibt Parkplätze sogar in dicht besiedelten Wohngebieten. Und die Hiergebliebenen wirken wie eine verschworene Gemeinschaft, die beim Umtauschen der Geschenke und in den Kneipen lächelnd zusammenrückt. Alle in einem Nest aus Watte. Fiele jetzt Schnee, er würde seufzen.

Aus diesem Gefühl erwachsen Toleranz und Liebe, die nicht allein sechs rot-gülden gefärbten Festtagseiern gelten. Doch bei denen fängt es an. Ist es nicht schön, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, die Eier aus dem Stall zu holen, sie zu kochen, abzuschrecken, eine passende Feststagsfarbe auszusuchen, die sich deutlich vom Ostern unterscheidet?

Und ist es nicht wunderbar, dabei weder an E120 und E171 bis 172 noch an E463 zu sparen? Kann sich nicht glücklich schätzen, wer für unter zwei Euro sechs rot-gülden gefärbte Feststagseier „aus Bodenhaltung“ quasi ins gemachte Nest gelegt bekommt? Die sich noch dazu bis 14. Januar halten!

Anti-Aggressionstraining, Psychotherapie, Strafvollzug – all das wäre überflüssig, lebten die Menschen immer „zwischen den Jahren“, dieser Niemandszeit in einem Niemandsland, die am 6. Januar überrannt wird von einem neuen Jahr, das ganz schnell ganz alt aussehen würde, ließe man es mit all seinem Drängen und Fordern einfach abprallen und sagte schnöde: „Nö.“

(Wetten, dass der beschädigt amtierende Bundespräsident bis 6. Januar nicht zurücktritt?)

(zuerst erschienen unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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