Tag 5 – Ein Buch, das du immer und immer wieder lesen könntest

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Warum lese ich? Weil ich die Fremde liebe, die kurzen Reisen in Regionen, die für keinen Überlandbus mehr erreichbar sind, aus deren Tempeln es keine Vox-Tours-Reportagen gibt. Ich kann diese Reisen nur ein Mal machen. Beim zweiten Man ist es ein andere Route in eine Welt – weil das schwerste Gepäck auf diesen Unternehmungen ich selbst bin mit meinen Erwartungen, Erfahrungen, Stimmungen. Das macht es reizvoll, sich erneut auf den Weg zu machen. Und es ist genauso ein Grund es zu lassen.

Mein Begleiter, Führer und Beschützer ist die Sprache. Keiner noch so großen Verlockung mag ich folgen, wenn Wörter und Sätze wie Hürden im Weg liegen, wenn sie die Aussicht verstellen, wenn das Ziel als Fototapete erkennbar wird.

Ein Buch, dass ich immer und immer wieder lesen könnte, ist „Legende“ von Ronald M. Schernikau. Ich habe es allerdings noch gar nicht gelesen. Nur geblättert in den knapp 840 Seiten, die das Lebenswerk eines 31-Jährigen sind.

Schernikau erklärt sich:

sie müssen sich bei eitelkeiten immer klar machen, daß ich zehn jahre lang fast vollkommen erfolgslos war, als ich das hier schrieb. sie müssen bedenken, dass ich gezwungen war, mein spätwerk schon in meinen dreißigern zu liefern. wenn sie dieses buch lesen, bin ich berühmt, kunststück, aber jetzt! wenn sie dieses buch lesen, bin ich schon lange tot. hoffentlich! die vergangenen zeiten! der heitere abschied! komisch ist, was über die mühe erhebt.

Schernikau hat ein Leben in Ausrufeszeichen verbracht, als er 1991, zwei Jahre nach seiner Übersiedlung in die DDR, an den Folgen von Aids stirbt. Er ist eine Legende als Schillernder, Kommunist, als Autor der „Kleinstadtnovelle“.

„Legende“ kann erst 1999 bei ddp goldenbogen erscheinen und auch nur dank Solidarität der Subskribenten. Prominente und Kollegen wie Sahra Wagenknecht, Elfride Jelinek oder Peter Hacks werben dafür, das Buch für 135 Mark zu kaufen (das kostet es heute antiquarisch in Euro). „Es geht um eine förmliche Wiedereinsetzung der Wahrheit“, schreibt Hacks. Und: „Der Beitritt zur Subskription, den ich von Ihnen erwarte, ist ein kleiner Dank für eine große Wohltat, die er Ihnen würde erwiesen haben, wenn Sie in der Stimmung gewesen wären, sie entgegenzunehmen.“ Eberhard Esche, Dietrich Kittner oder Wolfgang Kohlhaase gehören zu den ersten.

Nun liegt es da, das Buch, und ich wüsste gern, wer es tatsächlich gelesen habt. In 11 Teilen sind Gedanken, Dialoge, Stücke, Gedichte versammelt. Eine Handlung im vertrauten Sinn gibt es nicht. Dafür viele kurze Abschnitte, zweispaltig gedruckt.

haben sie es schon bemerkt? die situationen in dieser legende haben etwas entnervend statisches. das liegt an der welt. das liegt an der insel. die insel, zum glück ist die bloß die insel. (Seite 116)

Schernikau gibt sich gleichermaßen isoliert wie weitherzig zu erkennen.

aufwachlied
ach wir alle
hassen das sehnen
unserer fühle
unserer sucht.

(…)

ändert die richtung
ändert die arbeit
arbeitet ändert
fürchtet euch nicht

(S. 533)

Ich bräuchte hundert Lesebändchen, um mich durch dieses Werk zu leben. Das eine liegt gerade zwischen den Seiten 16 und 17. Vielleicht wegen dieses Satzes:

wer sich vor den göttern verneigt, muß das gleiche mit den menschen tun.

Ich freue mich auf diese Buch. Ich werde es immer lesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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