Zum Wesentlichen

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Nein, wir haben es nicht wahrgemacht. Doch, es lagen Geschenke unter dem Weihnachtsbaum (in dem die frühlingshaft gestimmten Amseln gerade mit dem Nestbau beginnen wollten, als wir ihn gestern von der Wiese ins Wohnzimmer holten). Jetzt liegen sie auf dem Tisch (die Geschenke, nicht die Amseln).


Und ja, auch Selbstgebasteltes ist dabei. Von den Großeltern die Alben Volume1: “Oma, erzähl mal!” und Volume 2: “Opa, erzähl mal!”. Das sind Erinnerungsbücher mit fragenden Hilfestellungen und vielen Leerstellen, die Oma und Opa in den vergangenen Monaten auf Wunsch mit Liebe und Details gefüllt haben. Mit Fotos von sich, näheren wie ferneren Verwandten, unter denen, wie nun herauskommt, auch “schul- und ortsbekannte Einfaltspinsel” sich befanden.

”Ich wollte Ärztin werden”, schreibt die Großmutter. Sie wurde nach dem Krieg dann Neulehrerin und ihre Tochter in der Schule geboren. Gesellschaftliches und Privates geraten durch die im Buch vorgegebenen Eckdaten in unbeabsichtigte Zusammenhänge. Einen Monat bevor die DDR gegründet wird, bezieht die junge Familie ihre “Traumwohnung”, WC halbe Treppe.

Was sie in ihrer Jugend nach der Schule gemacht haben, erzählen beide, und die Großmutter dokumentiert das Familien-Stollen-Rezept. Der Trauschein von Herrn Klötzer und Frau Ganzleben vom 4. Oktober 1924 erweist sich als ein kleines Kunstwerk. Ein Brief des Urgroßvaters, den er mit 13 Jahren an seine Schwester, seine "liebe Ziehmutter", schrieb, ist eingeklebt und auch ein Gebet, das die Urgroßmutter bei ihren Papieren aubewahrte, auf der Schreibmaschine getippt: “Hindere mich, geschwätzig zu werden, (…) Schenk mir die wunderbare Einsicht, dass ich zuweilen Unrecht haben kann. (…) Gib mir Flügel, dass ich rasch zum Wesentlichen gelange! ”

Letzteres war für den Großvater nie ein Problem. Gefragt nach dem, was er “am wenigsten schön fand”, notiert er: “monatlich Schulaufsätze schreiben zu müssen.” Seine Leidenschaft ist die Mathematik: konkret und präzise. Noch heute führt die Knappheit seiner Sätze zu schönen Pointen. Schon in seinen Bemerkungen vorab: “Alte bzw. neue Rechtschreibung wurden wahllos verwendet bzw. nicht verwendet.”

Diese beiden Bücher sind Schätze und Fundgruben. Ernst und komisch. Manches, sagt der Großvater, habe er nicht schreiben können oder wollen, das müsse er eben erzählen. Das ist die für heute wichtigste Anregung. Und ein Versprechen ist es auch.

(zuerst erschienen unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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