Corona und das Stigma

Review: Der mediale Frontverlauf im Zeitraffer

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Wurde unser Leben weniger lebenswert durch Corona? Sicherlich würden viele diese Frage mit ja beantworten. Spätestens mit der vierten Welle wurde die Stimmung im Lande merklich schlechter. Zu spüren im Job, im Bekannten- und Freundeskreis, in den Familien. Immer mehr Impfdebatten, verhärtete Fronten, Unverständnis der einen Seite gegenüber der anderen. Impfpflicht, ja oder nein? Jedes erdenkliche Argument wird aus der Schublade geholt. Wenn auch das letzte davon nicht greift, Feuer frei. Erste Freundschaften zerbrechen, der neue Alltag.

Täglich werden unzählige Menschen jetzt geächtet, diskriminiert und stigmatisiert, für Ihre Meinungen, ihre Gefühle, ihre Ängste. Muss man diejenigen, die sich bedenkenlos impfen lassen, als Impflemminge bezeichnen? Ihnen eine naive Partizipation am größten Genexperiment der Geschichte unterstellen? Nein! Muss man die anderen als Querficker beleidigen, weil sie Maßnahmen einer Regierung kritisch hinterfragen? Ihnen Solidaritätsverweigerung wegen Ihrer inneren Bedenken nachsagen? Nein!

Doch die Töne werden rauer, die Verhältnisse unausgewogener. Viele Medien haben ihre Wahl längst getroffen. Kritischer Journalismus? Unerwünscht! Keine Diskussion, Impfen ist die neue Freiheit, der einzige Ausweg aus der „Pandemie der Ungeimpften“. Im TV einseitige Gesprächsrunden, in denen man sich gegenseitig zärtlich Honig ums Maul schmiert. „Man habe alles richtig gemacht“. Der Ärger und die Empörung hochdekorierter Persönlichkeiten richtet sich gegen die nicht anwesenden „Tyrannen“.

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Im ÖR wird nun der Bruch der Gesellschaft gefördert und gefordert. „Herzlichen Dank an alle Ungeimpften“, heißt es da sarkastisch vor einem Millionenpublikum. Gegenmeinung? Nein, heute nicht - und morgen auch nicht. In den sozialen Medien liegt der Begriff „schwere Schuld“ im Trend. Angeblich trägt sie jeder Impfskeptiker, denn diese sind nicht nur Tyrannen, sondern Terroristen, gar verantwortungslose Mörder.

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Man braucht die (sozialen) Medien nicht immer ernst nehmen. Die Ungeimpften per Schubladendenken alle zum rechten unteren Grad der Gesellschaft abzuwerten, sie als nicht essenziellen Blinddarm zu bezeichnen, war bis dato sicherlich eine der pikantesten Formen der Stigmatisierung (im Zusammenhang mit Corona). Eine grundlegend geltende Kausalverknüpfung zwischen Impfverhalten und politischer Orientierung aufzustellen, macht keinerlei Sinn und verletzt vor allem diejenigen, auf die sie nicht zutrifft. Ist die für den ÖR tätige Moderatorin über ihr Ziel hinausgeschossen? Ihr Drang, sich anschließend für die Kritik an ihrer Person zu rechtfertigen, lässt es hoffen.

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Wortwörtlich baut man nun wieder Zäune, um Bereiche der Öffentlichkeit „sauber“ zu halten, während unsere Nachbarn in Österreich bereits spezielle Einrichtungen zur Beugehaft von Impfverweigerern diskutierten. Zumindest dieser Vorschlag setzte sich erstmal nicht durch. Der WDR liefert zwischendurch eine seichte Anleitung, wie man zum Weihnachtsfest mit den „Ungeimpften“ innerhalb der Familie verfahren soll. Aber von einer Spaltung der Gesellschaft ist nichts zu merken, zumindest nicht laut Neukanzler Scholz, nur eine „lautstarke Minderheit“.

https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/bundeskanzler-olaf-scholz-sieht-keine-spaltung-der-gesellschaft-78487552.bild.html

Wohl eine besondere Art von Humor. Diese Minderheit ist größer als die Zahl der SPD-Wähler bei der Bundestagswahl. Zum Lachen dürften diese Aussage allerdings die wenigsten gefunden haben. Werden viele doch gerade regelmäßig stigmatisiert oder massiv unter Druck gesetzt, etwa von Ihren Arbeitgebern. Aber wenn es keine Spaltung gibt, gibt es natürlich auch nichts, was man irgendwann verantworten muss. Praktisch, weil dann gibt es auch keine diskriminierten Bürger. Oder gibt es sie doch?

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Viel brauchte es gar nicht dafür, um in diese brenzlich anmutende Lage zu geraten: Einen unsichtbaren Virus, unstete Regierungsarbeit, eine teils verängstigte, teils gutgläubige Gefolgschaft und eine ausgemachte Gruppe der Schuldigen. Dazu ein paar Impfkampagnen, die den Menschen den Ausweg aus der Pandemie versprechen. Schon konnte die Maschine starten. Da diesmal aber keine Bomben fallen, bemerken ohnehin viele gar nicht, auf welchem dünnen Eis wir uns bewegen. Dabei schwimmt unser Grundgesetz bereits wie ein Teller kalte Suppe in der Toilette und wartet darauf, von der Gewaltenteilung runter gespült zu werden.

Als erstes soll es jetzt das Pflegepersonal treffen, das ihr individuelles Recht auf körperliche Unversehrtheit verliert. Diejenigen, die am härtesten für unsere Gesundheit arbeiten, diejenigen die am besten wissen, wie man sich und andere schützt. Recht auf Selbstbestimmung? Abgelehnt! Letztes Jahr klatschte man Applaus und jetzt droht die Entlassung, wenn man sich weigert. Ein dreizehntes Monatsgehalt zur Weihnachtszeit sieht anders aus. Dabei gäbe es auch andere Möglichkeiten, als die Androhung von „totalitären“ Zwangsmaßnahmen:

https://www.welt.de/kultur/plus235506042/Corona-Politik-Das-Beispiel-England-spricht-gegen-die-Impfpflicht.html

Das Leben wäre aber nicht das Leben, das wir kennen, wenn die ganze Geschichte hier schon zu Ende wäre, sich jeder einfach mit seinem neuen Schicksal abfinden würde. So werden sich fortan die großen Gegensätze unweigerlich wieder bekämpfen, recht und unrecht, richtig und falsch, gesund und ungesund. Neue Dynamiken, die das Leben von jedem Einzelnen in naher Zukunft nähren werden, bis die Transformation abgeschlossen ist. Heraklit sollte rechtbehalten, der Krieg (der Gegensätze) als Vater aller Dinge. Traurige Zeiten, gefährliche Zeiten, chancenreiche Zeiten.

Vor allem aber Zeiten, in denen sich niemand stigmatisieren oder ausgrenzen lassen muss - egal ob geimpft oder ungeimpft. Keiner trägt eine Schuld, die der andere nicht trägt. Keiner ist aufgrund seines Impfverhaltens solidarischer als der andere. Alle sind Menschen und niemand hat gegen ein Gesetz verstoßen. Wurdet Ihr stigmatisiert? Dann steht auf für eure Rechte, egal auf welcher Seite Ihr steht. Ein Schelm wer da behaupten würde, dass unsere Regierung das verhindern möchte.

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Geschrieben von

Martin Keller

Schnurrpfeiferei: Wenn man ein zukünftiges Ereignis vorab in seinem Gefühl erspürt, ist diese Geschichte dann schon vergangen, bevor sie passiert?

Martin Keller

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