taz: STREITSCHRIFT GEGEN NOTEN
Wie die Schule Verlierer produziert
Die Grundschullehrerin Sabine Czerny entlarvt die Notenlüge: Für die Auslese werden Kinder zur Vier gemacht. Darüber hat sie jetzt ein Buch geschrieben.
VON ANNA LEHMANN
Über das rezensierte Werk kann ich nichts sagen. Der Taz-Artikel aber verrührt mehrere Aspekte:
1. Schule als Ausleseinstitution
Auslese ist ein widerlicher, aus Ständezeiten überkommener Aspekt von Schule. Demokratie verlangt so viel Bildung, so viel Fähigkeit zu rationalem, komplexen Denken, so viel Wissen im Volk wie nur möglich. Die Auslesefunktion der Schule steht dem entgegen.
2. Noten als Auslesemittel
In der Diskussion zum Artikel schreibt Andrea Bürkle:
Es gibt eine MATHEMATISCHE Regel, die besagt, dass es nur dann zulässig ist, aus einer Reihe von Messwerten (= Einzelnoten, z.B. von Klassenarbeiten) den arithmetischen Mittelwert (= Gesamtnote) zu errechnen, wenn man zuvor BEWIESEN hat, dass die Messwerte das INTERVALLSKALENNIVEAU aufweisen. Das bedeutet konkret: Der Abstand beispielsweise zwischen der Note "1" und der Note "2" in einer Klassenarbeit muss nachweislich genauso groß sein wie der Abstand etwa zwischen einer "4" und einer "5".
Ich möchte noch hinzufügen, dass es sich bei den Noten außerdem um das dümmstmögliche mathematische Mittel handelt: um die Abbildung einer vieldimensionalen Sache in eine lineare Struktur, eine "Skala".
3. Anforderungen in der Schule
Laut taz-Rezension beklagt die Autorin:
Alle Kinder können lernen, alle Kinder könnten eine Eins sein. Doch Drill und Zensuren halten sie davon ab. Die Noten spiegeln stattdessen eine Verteilung in begabte und weniger begabte Kinder vor.
und
Alles, was im Unterricht eingeübt wurde, ist nur eine Vier wert, was eigentlich heißt: Ein Kind hat es kapiert. Die Kultusminister haben sich aber darauf geeinigt, dass Kinder mehr können müssen als das Eingeübte, um eine bessere Note zu bekommen.
Tatsächlich fordern die Schulgesetze mehr als das Wiederkäuen von Gelerntem und das Abspulen von 100x Geübtem.
Frau Czerny betrat die Bühne der Öffentlichkeit, als sie einen katholischen Zivilgesellschaftspreis bekam, als ob sie mutig dem Apparat einer Diktatur in die schmutzigen Hände gefallen wäre. Kleine Erinnerung: Parlamente werden von Bürgern gewählt, Schulpolitik ist demokratisch legitimiert! Und da muss sich die Zivilgesellschaft gefälligst mal an die eigene Nase packen:
1. Das deutsche Bürgertum hat in Hamburg basisdemokratisch dokumentiert, dass es an der Schule als Ausleseinstitution selbst gegen Menschenrechtsbedenken festhält. Das ist ein Versagen in der Größenordnung desjenigen von 1848 - und wir können sagen, wir sind dabeigesessen.
2. Wirtschaft und Bürgertum halten an den Ziffernnoten fest. Jeder denkende Mensch sollte meinen, dass Durchschnittsnoten bei Bewerbungen kaum Aussagekraft haben. Sie sind aber unschlagbar billige Indikatoren. Und Schule für die Massen muss schließlich billig sein, der reiche Rest kann sich dann auch preiswerter seine Alleinstellungsmerkmale leisten!
3. Bis vor kurzem war "Mathe" teilweise zu einem Fach entgleist, das (teilweise) sinnlose rituelle Handlungen mit dünnen Begründungen zum Bildungsgut erklärt. Lang lebe die pq-Formel! Nach PISA wurde zu Recht klar, dass viel mehr als "Eingeübtes" gefordert werden muss. Das ist aber sprachlich vermittelt und nicht mehr nur sinnlos-formal-kalkülhaft abgearbeitet werden. Und das schließlich benachteiligt plötzlich die Schüler mit geringerem kulturellem Kapital, die bislang in den mathematisch-technischen Fächern noch Ausgleichsmöglichkeiten hatten. Das Problem wird aber nirgends bearbeitet und satt dessen mit vielen anderen Problemen den einzelnen Schulen im Rahmen der allseits bejubelten "selbstständigen Schule" zugeschoben.
Mit grundsätzlichen Problemen, die ein Kultusministerium in Deutschland kompetent lösen könnte, beschäftigen sich nun mehrere 1000 Arbeitsgruppen in den Schulen mit mehreren 10000 Mitgliedern und vielen 100.000 aufgewendeten Arbeitsstunden in 16 verschiedenen chronisch unterfinanzieren "Systemen".
Die Bürger dieses Landes haben das Schulsystem, das sie verdienen!
Kommentare 10
Das Buch habe ich nicht gelesen. Warum auch? Von der Notengebung Betroffene sollten darüber reflektieren. Doch die wollen ja die Noten, wie im Taz-Artikel nachzulesen ist: In Berlin dürfen die Eltern der Grundschüler sogar selbst entscheiden, ob ihre Kinder ab Klasse drei Noten bekommen sollen. Die Elternabende finden zurzeit statt. Bei einem stimmten alle Anwesenden bei zwei Gegenstimmen für Zensuren.
Nicht anders in RLP, dem Bundesland, in dem meine Kinder zur Schule gehen. Die ersten beiden Schuljahre sind gänzlich notenfrei. Im 3. Schuljahr kann die Schulkonferenz bestimmen, ob Noten gegeben werden. Erst ab dem 4. Schuljahr sind sie Pflicht, und jede Note ist mit einem Kommentar im Zeugnis zu versehen. Diese bayrische Lehrerin scheint mit dem blau-weißen Tunnelblick ihre ideologischen Thesen mit Übereifer zu vertreten. Sie hätte über den Weißwurstäquator blicken sollen.
Die These 'Die Grundschullehrerin Sabine Czerny entlarvt die Notenlüge: Für die Auslese werden Kinder zur Vier gemacht', könnte für Bayern zutreffen, nicht jedoch für Berlin oder RLP. Merkwürdig ist: Das bayrische Schulsystem schneidet im PISA-Ranking immer mit deutschen Spitzenwerten ab.
Nehmen wir die Schüler Angela, Bernd, Cem, Dorle, Erik und Fatih. Angela und Bernd gehen aufs Gymnasium, Cem und Dorle auf die Realschule und Erik und Fatih auf die Hauptschule. Bei einem standardisierten Vergleich schneiden die Schüler wie folgt ab:
Angela 1
Bernd 2
--- Durchschnittsnote der Gymnasialschüler: 1,5
Cem 3
Dorle 3
--- Durchschnittsnote der Realschüler: 3
Erik 4
Fatih 5
--- Durchschnittsnote der Hauptschüler: 4,5
=== Durchschnittsnote der gesamten Schülerschaft: 3,6 ===
Wegen Qualitätsverbesserung übernimmt Bayern nun die Kontrolle und stellt fest, dass das Gymnasium nicht leistungsorientiert genug ist und die Hauptschule gestärkt werden muss. Bernd und Dorle werden deshalb in die nächstniedrigere Schulform abgestuft. Dorle ist daraufhin sehr enttäuscht und schreibt beim nächsten Test eine schlechtere Note:
Angela 1
--- Durchschnittsnote der Gymnasialschüler: 1,5
Bernd 2
Cem 3
--- Durchschnittsnote der Realschüler: 2,5
Dorle 4
Erik 4
Fatih 5
--- Durchschnittsnote der Hauptschüler: 4,3
=== Durchschnittsnote der gesamten Schülerschaft: 3,8 ===
Ergebnis: Die einzelnen Schulformen sind jeweils deutlich BESSER geworden. Die gesamte Schülerschaft ist allerdings um 0,2 Zähler schlechter als vorher. Der Kultusminister kann nun stolz der mathematisch analphabetischen Bevölkerung mitteilen, dass jede Schulform nach der "Reform" sofort in den Vergleichstests besser abschneidet. Er verschweigt dabei natürlich die Gesamt-Durchschnittsnote.
Noch viel besser wird es, wenn Fatih auf die Sonderschule kommt, die bei den Vergleichstests nicht mitgerechnet wird. Dann ist die
--- Durchschnittsnote der Hauptschüler: 4,0
und die
=== Durchschnittsnote der gesamten Schülerschaft: 3,5 ===
Voller Erfolg! Willkommen im Bayerischen Schulsystem, das Deutschland-Intern ja so gut abschneidet!
Im Grunde steht und fällt doch alles mit motivierten Eltern UND Lehrern. Nur im Zusammenspiel kann es wirklich klappen einen motivierten Schüler in seiner Leistungsschulform zu positionieren.
@ Klaus Fueller
Schönes Rechenexempel - für Bayern, das Land mit dem dreigliedrigen Schulwesen. Es lohnt auch mal einen kritischen Blick auf die Länder mit freier Schulartwahl zu werfen: Den Gymnasien kommt die Aufgabe zu, während der Orientierungsstufe auszusondern. Das Problem der Spartenzuweisung ist aufwendiger, auch mit systemeigenen Härten verbunden, weil die Schüler die Schule verlassen müssen und oft in der rangniedrigen Schulart mit dem Frust der Ausschulung zurechtkommen müssen. Dieser kann Jahre anhalten und kann zu Deprivation führen. Diese sog. schwierigen Schüler hätten in einer Gemeinschaftschule ihren Platz finden können.
Anderes Beispiel: Im Grenzgebiet zwischen Bundesländern, beispielsweise Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, werden Kinder aus dem Ländle im Nachbarbundesland am Gymnasium eingeschult, weil der Notenschnitt für das baden-württembergische Pendant nicht erreicht wurde. Nach einer Schamzeit von drei Monaten werden die Kinder in ein badisches Gymnasium eingeschult. Das geht, das Kind kommt ja von der selben Schulart.
Solche Ungereimtheiten, ja Irrsinnigkeiten gibt es seit Jahrzehnten. Trotzdem wurde erst kürzlich die Kulturhoheit der Länder im Bildungswesen erneut festgeschrieben, obwohl Umfragen immer wieder zeigen, dass eine Mehrheit der Eltern sich eine bundeseinheitliche Regelung des Schulsystems wünscht.
Mit einer derartigen Aussagen enden immer die Diskussionen. Man muss aber auch gelegentlich die Systemfrage stellen:
Die "Zivilgesellschaft" muss verlangen, dass das Schulsystem - als System, als organisatorische Struktur der Ressourcenallokation - die gewünschten Ziele der Schule unterstützt.
In der deutschen Realität sind aber die Ziele unklar und die Organisationsstruktur widerspricht den Zielen, soweit die Ziele überhaupt benannt werden.
Klar: Engagierte Personen erreichen _trotz_ des Schulsystems und teilweise sogar _gegen_ es mit viel Kraftaufwand hin und wieder auch gute Ergebnisse. Ein gutes Schul_system_ müsste aber so geschaffen sein, dass es mit seinen Strukturen "schwächelnde" Lehrer und Schüler ermutigt und unterstützt und engagierte Personen fördert.
Der Bürger ist selbst verantwortlich für das Schulsystem. Wir leben nicht in einer Diktatur! Die Bürger verantworten ein billiges, ungeeignetes Schulsystem und rufen den Beteiligten (Schülern UND Lehrern), die sich in diesem System verschleißen, aufmunternd zu: Mehr Engagement!
Wenn dann einzelne Personen mit übermäßigem Aufwand, gegen die vom Bürger verantworteten Strukturen auch mal ein beachtliches Ergebnis vorweisen, rufen die Lautsprecher der "Zivilgesellschaft": "Na also! Geht doch!!".
Herr Füller, mir wird auch nach mehrmaligem Lesen nicht klar, was Sie so insgesamt sagen wollen. Ich nehme mal diese Formulierung:
"Auslese ist ein widerlicher, aus Ständezeiten überkommener Aspekt von Schule. Demokratie verlangt so viel Bildung, so viel Fähigkeit zu rationalem, komplexen Denken, so viel Wissen im Volk wie nur möglich. Die Auslesefunktion der Schule steht dem entgegen."
Und nehme Schelsky dazu: „Schule als entscheidende zentrale soziale Dirigierungsstelle und als bürokratische Zuteilungsapparatur von Lebenschancen“ (1965,17)
Und da scheint mir, dass Sie was durcheinander bringen: Zur Demokratie gehört die Gleichheit der Bürger, der Citoyen. Die Gesellschaft dagegen besteht aus Ungleichen, mal mehr, mal weniger. Die Schule soll auf beides vorbereiten: Auf Demokratie/Staat/Gleichheit und auf Gesellschaft/Ungleichheit.
Sie bereitet auf die Ungleichheit vor, in dem sie unterschiedliche Berechtigungen vergibt, das war im 19. Jahrhundert ein fortschrittlicher Gedanke der preußischen Reformer; nicht mehr die Geburt aus dem Adel, sondern die Leistung in Schule und Universität solllte für die Zuweisung für die Positionen im Staatsdienst entscheidend sein. Und so wurde die Schule für das Bürgertum zum Einbruchstor, zum Vehikel der gesellschaftlichen Emanzipation. (Dass das nur gebrochen geschah, geschenkt.)
Demokratie hat nun aber das Problem, in einer Gesellschaft der Ungleichen stattzufinden. Stuttgart21 etwa zeigt, dass hier ein strukturelles Problem liegt, die da oben, die da unten, und dennoch sollen alle gleichen Einfluss haben. Dass das immer wieder nur mit Störungen funktioniert, ist ja klar. Und in der Schule wiederholt sich dieses Problem täglich, in jeder Klasse, in jeder Stunde: Der Einfluss des Elternhauses, der Herkunftsschicht jedes einzelnen Kindes in einem System, dessen gesetzliche Grundlagen Null Hinweis auf soziale Ungleichheit haben. Und dennoch reproduziert es in aller Gleichheit die soziale Ungleichheit.
Niemand weiß bislang, wie man diesen Widerspruch auflöst. Man müsste dazu ja den Widerspruch von gesellschaftlicher Ungleichheit und demokratischer Gleichheit auflösen. Weil Letzteres in der Schule gar nicht gelingen kann, bleibt die Schule immer eine Einrichtung, der Ungleichheit aus Gleichheit schafft.
Man kann da nur über die Art und Weise reden. In neoliberaler Pädagogik vom Beatenberg-Typ wird den Schüler selbst die Erzeugung, Begründung und Verinnerlichung ihrer Ungleichheit aufgedrückt, die Guccis verlangen nach gehobenen Schonräumen für ihre Kleinen, in denen die Konkurrenz mindestens zeitweilig gemindert ist.
Und links hat man da gar kein Konzept, außer, dass es irgendwie die Institution Schule ändern will. Und Empörung allein hilft da nicht weit.
HL
Wer Noten doof findet, könnte vielleicht mal eine Alternative nennen. Wer Auslese nach Leistung doof findet, bitte auch.
Ich sehe keine. Wenn es keine Noten mehr gibt, dann werden die Lehrstellen eben künftig nur noch nach Vitamin B vergeben. Und an den Unis tummeln sich noch mehr Studenten, die für ein Studium nicht geeignet sind.
Ohnehin sieht man ja am Beispiel der Unis, wohin es führt, wenn Noten abgeschafft werden. Da in den meisten Fächern am Ende ohnehin jeder wenigstens eine 2 bekommt - aus Mitleid, um den Studis die Karriere nicht zu verbauen - , zählen Noten bei Personalchefs natürlich nichts mehr. Stattdessen kommt es auf Vitamin B und Habitus sowie die "sozialen Kompetenzen" an, die in erster Linie daraus bestehen, sich "gut verkaufen" zu können.
So wird soziale Ungleichheit zementiert - im Interesse eines von Abstiegsängsten geplagten Bürgertums und von den Linken beklatscht.
Eine Note ist nur eine Ziffer. In Deutschland begrenzt innerhalb einer Skala von 1 bis 6. Wer auf 2,49 steht, erbringt danach gute Leistungen, wer 2,50 erreicht nur befriedigende. Allein dieses Beispiel macht die Absurditäten sichtbar, weil ein Hundertstel diese Leistungsdifferenz nicht sichtbar machen kann. Eine Alternative ist die verbale Beurteilung, wie sie auch bei Erwachsenen Anwendung findet. Niemand, der einen Betrieb verlässt, wird mit einem Ziffernzeugnis abgespeist. Beurteilungen nach Ziffern spiegeln nicht die Facetten der Leistung eines Menschen wider. Sie vermitteln gar eine Scheinobjektivität.
Weiterhelfen würden evtl. statistische Zahlen über den schulischen Erfolg und einem daran sich anschließenden Hochschulabschluss. Also: Wieviel Prozent der Schüler, die in der 5. Klasse am Gymnasium eingeschult wurden, schaffen das Abitur? Wieviel Prozent der Abiturienten erreichen einen Hochschulabschluss?
@Achtermann
Das ist sicher ein vernünftiger Ansatz. Vielleicht könnte man ja beides kombinieren: Noten und eine ergänzende schriftliche Beurteilung.
Mag sein, dass ich falsch liege - aber wenn es nur noch verbale Bewertungen geben sollte, sehe ich die Gefahr, dass es am Ende wie bei Arbeitszeugnissen läuft: Eine schwer zu entschlüsselnde Geheimsprache entwickelt sich und vor allem: wer kein gutes Zeugnis bekommt, klagt u.U. so lange, bis er eines bekommt - wenn er die Mittel dazu hat.
Das wäre sicher ein erster Schritt mit Sinngehalt. Wenn ich das Zeugnis meiner Kinder lese, sehe ich nur Ziffern, Beispiel: Mathematik: 3. Das Fach setzt sich aus vielen unterschiedlichen Facetten zusammen: Geometrie, Arithmetik, textgebundene Aufgaben, Algebra etc. Hier könnte mit verbalen Hinweisen gearbeitet werden, und schon würde das Bild der Leistungsbeurteilung differenzierter.