Gedankenspiele für ein Kriegsende

Drei Möglichkeiten: Wie der Ukrainekrieg enden sollte, enden könnte und wie er wohl enden wird.

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GEDANKENSPIELE FÜR EIN KRIEGSENDE

Wie der Ukrainekrieg enden sollte, enden könnte und vermutlich enden wird

von Klaus Goergen

Nehmen wir an, wir lebten in einer idealen Welt, in der die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren von allen Nationen ebenso anerkannt wird wie das gleiche Recht auf Sicherheit für alle Nationen und in der alle bereit sind, nicht nur den Splitter im Auge des anderen zu sehen, sondern auch den Balken im eigenen. Dann würde der Ukrainekrieg damit enden, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abzieht und auf alle kriegerischen Handlungen gegenüber dem Nachbarland verzichtet, eine von den UN durchgeführte und überwachte Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der vier östlichen Provinzen zur Ukraine oder zu Russland akzeptiert und nicht behindert und im Falle einer Mehrheitsentscheidung für die Ukraine diese akzeptiert. Umgekehrt würde auch die Ukraine eine Mehrheitsentscheidung in den vier östlichen Provinzen für einen Anschluss an Russland akzeptieren.

Der Westen würde sein gegen Russland gerichtetes Militärbündnis NATO auflösen und in ein System kollektiver Sicherheit überführen, d.h. in ein System, dem alle Länder der Welt mit ihren nationalen Armeen beitreten können, und das seinen Mitgliedern garantiert, dass ein Angriff auf eines von ihnen als Angriff auf alle verstanden wird. Sofern die meisten Länder der Welt, insbesondere auch die militärischen Groß- und Atommächte, diesem System kollektiver Sicherheit beitreten, würde sich die Beistandspflicht auch auf angegriffene Länder erstrecken, die von einem anderen Mitglied attackiert werden. In diesem System kollektiver Sicherheit wären Atomwaffen überflüssig. Die Atommächte würden daher ihre atomaren Arsenale kontrolliert und schrittweise abbauen bis zur völligen Denuklearisierung der Welt. Damit entsprächen sie der Verpflichtung aus Artikel VI des Nicht-Weiterverbreitungs-Vertrags (NPT) von Atomwaffen, den inzwischen fast alle Länder der Welt unterschrieben haben.

Es wäre dies ein gerechter Weg, den Ukrainekrieg zu beenden und zukünftige Kriege sehr viel unwahrscheinlicher zu machen. Die Idee überträgt die Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls auf die Staatengemeinschaft: Wenn kein Land wüsste, wie groß und stark es ist, würde es sich aus wohlverstandenem Eigeninteresse für ein solches System atomwaffenfreier, kollektiver Sicherheit entscheiden. So sollte der Krieg beendet werden – in einer moralisch vollkommenen Welt.

Nehmen wir hingegen an, wir lebten in einer weniger idealen Welt, in der immerhin das erste und unmittelbare Interesse aller direkt oder indirekt am Krieg beteiligten Nationen darin besteht, diesen möglichst rasch zu beenden. Dies könnte der humanen Einsicht folgen, dass die Kriegssituation – ein Stellungs- und Abnutzungskrieg, ohne jede vernünftige Aussicht für eine Seite, den Krieg auf dem Schlachtfeld für sich zu entscheiden - nur weitere verheerende Menschenopfer auf beiden Seiten fordert. Dann würde ein Weg aus dem Krieg gefunden werden, der es beiden Seiten ermöglicht, sich zumindest nicht als Verlierer zu fühlen. Das erschiene zwar jenen als Zumutung, die eine Alleinschuld am Krieg auf russischer Seite sehen. Aber sie würden zugleich in einer unverblendeten historischen Einordnung erkennen, dass der Westen dazu beigetragen hat, die Situation zu eskalieren. Und sie würden in der Güterabwägung zwischen einem äußerst ungewissen Kriegserfolg mit sicherem Verlust an zahllosen weiteren Soldaten- und Zivilistenleben sowie vollkommener Zerstörung des Landes einerseits und einem sofortigen Friedensschluss andererseits, der territoriale Zugeständnisse beinhaltete, sich für Zweiteres entscheiden.

Ein solcher Friedensschluss könnte beinhalten, dass die russischen Truppen sich vom gesamten Territorium der Ukraine zurückzögen – das könnte in Kiew als Sieg begriffen werden - und die vier östlichen Provinzen der Ukraine zugleich einen weitgehenden Autonomiestatus erhielten – etwa entsprechend dem Modell Italien – Südtirol. Zudem würde jener Artikel aus der ukrainischen Verfassung gestrichen, der eine NATO-Mitgliedschaft als Ziel festschreibt. Und die Ukraine würde sich verpflichten, niemals NATO-Mitglied werden zu wollen. Autonomie und NATO-Mitgliedschaftsverzicht könnten in Moskau als Sieg verstanden werden.

Es wäre dies zwar kein gerechter, aber ein zumindest humaner, für beide Seiten schmerzlicher Weg, den Krieg zu beenden. So könnte der Krieg beendet werden – in einer moralisch nicht verkommenen Welt.

Nehmen wir schließlich an, wir lebten in einer Welt, in der nur das Recht des Stärkeren zählt, nur die eigenen Sicherheitsinteressen von Belang sind und nur der Splitter im Auge des anderen gesehen wird. Dann wird der Krieg erst enden, wenn die russische Armee durch permanente Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine soweit geschwächt ist, dass sie in den Augen der USA keinerlei Bedrohung mehr für irgendjemanden darstellt. Sie wird dann zwar noch ihre Atomwaffen besitzen, durch die sie sich vor einem direkten Angriff auf ihr Land schützen kann, aber keine konventionellen Kräfte mehr, die sie einsetzen könnte, um regionale Attacken und ein Auseinanderbrechen der GUS zu verhindern. Da die Waffenlieferungen, die geheimdienstliche und logistische Unterstützung durch den Westen ‚wohldosiert‘, medial begleitet und abgestimmt eskalieren, um den Russen keinen Vorwand zu liefern, ihrerseits zu eskalieren, wird der Krieg noch lange dauern, bis Russland „ruiniert“ sein wird. Für die USA bietet dieser Krieg die einmalige Chance, einen strategischen Rivalen in die Knie zu zwingen, damit den ‚Rücken frei‘ zu haben für den Hegemonialkampf gegen China, zugleich Europa fester und profitabler an sich zu binden und überdies als der moralische Held gefeiert zu werden. Und weil dieser Mehrfacheffekt so lukrativ ist, werden extreme Verluste an Menschenleben und Verwüstungen in der Ukraine dabei in Kauf genommen.

Es ist dies zwar weder ein gerechter, noch ein humaner Weg aus dem Krieg – aber leider wird er vermutlich so enden.

Übrigens: Man sollte der verschwörerischen Versuchung widerstehen zu glauben, all dies sei von den USA von langer Hand so geplant – aber besser hätte es für sie nicht laufen können.

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