Eine täglich wachsende Schar von Experten will uns erzählen, sie hätten den Ukraine-Konflikt lange schon kommen sehen. Umso mehr verwundert es mich, dass in diesem Zusammenhang ein Name völlig unerwähnt bleibt: Alain Minc. Bis heute habe ich nirgendwo eine Notiz finden können, die daran erinnert, dass er schon vor dreißig Jahren das Konfliktpotential exakt beschrieben hat.
1993 erschien sein Buch „Le nouveau moyen âge“ und schaffte es in Frankreich auf die Bestsellerliste. Ein Jahr später brachte Hoffmann und Campe die deutsche Fassung „Das neue Mittelalter“ heraus. Seine Vision eines neuen Mittelalters in Europa bestand nicht aus Polemik, sondern war von historischem und politischem Sachverstand geprägt. So beschrieb er in einem detaillierten Gefahrenkatalog unter anderem die russisch-ukrainische Grenze als „gefährlichste Zone auf dem kontinentalen Riss“. Das Konfliktpotential war also bekannt, doch die damalige Euphorie hat all das übertönt.
Hier ein Auszug aus seiner damaligen Analyse. Höret und staunet!
»Die Ukraine schlug wie ein Meteorit in Europa ein. Das plötzliche Erscheinen eines Staates mit 55 Millionen Einwohnern, der über Atomwaffen verfügt, der unklare Grenzen hat und 600 Kilometer von Deutschland entfernt liegt, ist eine Gefahr für ganz Europa. Bei einem Wiedererstehen Großrußlands, das Weißrußland und die Ukraine umfaßt hätte und vom Ballast seiner übrigen ehemaligen Reichsgebiete befreit wäre, hätte man keine Mühe mit den Spielregeln gehabt: Drei Jahrhunderte europäischer Diplomatie hinterlassen ihre Spuren. Mit der Ukraine jedoch wird alles viel komplexer, nach Osten wie nach Westen. Die ukrainischen Nationalisten können nicht für immer vergessen machen, daß Kiew die Wiege Rußlands war und die Ukraine noch nie unabhängig gewesen ist — selbst wenn sie einst, um die Unabhängigkeit zu erreichen, soweit gegangen war, ein Doppelspiel mit Nazideutschland zu spielen und daß ein Fünftel seiner Bevölkerung russisch ist. Diese Ukraine umfaßt — muß man noch daran erinnern? — entlang einer geographischen Linie, die der alten Grenze zwischen dem russischen Zarenreich und der Donaumonarchie entspricht, neben einer orthodoxen Mehrheit eine unierte katholische Minderheit. Das ergibt nach den Kriterien, die leider im neuen Europa oder zumindest im Osten als verbindlich gelten, keinesfalls einen ethnisch oder religiös einheitlichen Nationalstaat.
Hinzu kommt der Splitter der Krim, ehemals russisches Gebiet — Franzosen und Engländer werden sich aus tausend Gründen daran erinnern —, auch wenn es verwaltungsmäßig an die Ukraine gebunden wurde zu einer Zeit, als der triumphierende Kommunismus noch keinen Wert auf solche Fragen nach den bürokratischen Grenzen legte. Zu den unklaren Grenzen gesellt sich im übrigen noch eine Schar von Problemen, die mit der Trennung der beiden Staaten zusammenhängen. An guten Tagen erscheinen sie als gelöst, für den Rest der Zeit aber sind sie gegenwärtig: die Schwarzmeerflotte, die beide Länder untereinander aufteilen wollen wie zwei Vettern eine Erbschaft silberner Teelöffel von der Großmutter, was freilich weder in militärischer noch in logistischer oder menschlicher Hinsicht Sinn macht; das Atomwaffenarsenal, von dem man bisweilen den Eindruck gewinnt, der Schlüssel zu ihm sei verlorengegangen. Wer kontrolliert die Langstreckenraketen, und wohin sind die Kurzstreckenwaffen gekommen? Wer bestimmt über den Einsatz ersterer und wer bewacht die Lagerstätten letzterer? Ist die Ukraine wirklich eine Atommacht? Wem folgen ihre Offiziere? Der verblassenden Macht in Kiew oder ihren russischen Stubenkameraden, mit denen sie ihre Karriere gemacht haben? Die Währung, das alte Symbol der Souveränität, wird hingegen für lange Zeit wenig Probleme machen; angesichts der Schwäche ihrer eigenen Devisen sind Rußland und die Ukraine weite Ausläufer der riesigen Dollarzone geworden.
Ist es vorstellbar, daß dieses schwierige und künstliche Gleichgewicht zwischen Moskau und Kiew von Dauer sein könnte? Den Russen geht es mit der Ukraine wie den Franzosen mit Elsaß-Lothringen nach 1870: »Niemals davon sprechen, immer daran denken.« Verglichen mit den Bauchschmerzen, die politische Führung und Militärs bei dem Gedanken verspüren, sich freiwillig von den öden Eilanden der Kurilen und Sachalins zu trennen, und das im Tausch gegen die vielen Milliarden Dollar, die Japan ihnen bietet, kann man sich keine Sekunde vorstellen, daß sie für die Ukraine gute Miene zum bösen Spiel machen und die Teilung für alle Zeiten hingenommen haben ...
Diese strategischen Notwendigkeiten bedeuten auf kurze Sicht nicht, daß ein Krieg zwischen den Ländern unabwendbar ist. Er ist möglich, doch er scheint, deutet man alle Vorzeichen, wenig wahrscheinlich. Eine Vielzahl von Szenarien sind vorstellbar: von einem Anstieg der Spannungen, die eines fernen Tages in einen wirklichen Konflikt münden, bis zu von außen angeregten oder spontanen Umstürzen in Kiew, die einen staatsrechtlichen Annäherungsprozeß mit allen erforderlichen Übergängen auslösen, von einem Staatenbund bis zu einem Bundesstaat, nicht zu vergessen, Reibungen zwischen Russen und Ukrainern, die Moskau den Vorwand liefern könnten, sich einige Faustpfänder zu nehmen, oder, noch rücksichtsloser, einen großen nationalistischen Kreuzzug einzuleiten. Ich wette, daß Russen und Ukrainer sich im Jahr 2000 in einer Konstellation zueinander befinden, die nichts mit der heutigen gemein hat. Beide werden sich guten Willens zeigen, um die westlichen Geldgeber zufriedenzustellen und gleichzeitig Hintergedanken hegen und für tägliche Verunsicherungen sorgen.«