1969: Lust am Tod

Zeitgeschichte Charles Manson und seine Anhänger ermorden in Kalifornien sieben Menschen. Das Blutbad schockiert Amerika und bedeutet für viele das Ende der freiheitlichen 60er Jahre
Ausgabe 31/2019
Manson 1980 im Zuchthaus von Vacaville/Kalifornien
Manson 1980 im Zuchthaus von Vacaville/Kalifornien

Foto: Albert Foster / Mirrorprix / Getty Images

Es gibt in diesem Jahr neue Filme, darunter einen von Regisseur Quentin Tarantino. Charles Manson, der Auftraggeber der Morde vor einem halben Jahrhundert, der „Anführer eines Kults“, wie es heißt, der nie erfolgreiche Musiker, ist Sinnbild und Karikatur des Bösen. Man sehe das doch auf dem Foto des Mannes mit dem Hakenkreuz auf der Stirn. Oder man höre es in den Interviews, die Manson in der Haft gegeben habe. In einem 1987 vom Fernsehkanal NBC ausgestrahlten Gespräch versichert Manson, Schuldgefühle habe er keine. Vielleicht hätte er „vierhundert oder fünfhundert Menschen“ töten sollen, dann hätte er etwas beigetragen zur Gesellschaft. Wollte er wirklich jemanden umbringen, sagte Manson zur NBC-Reporterin, würde „ich das Buch hier auf dem Tisch nehmen und dich totschlagen“. Und außerdem habe er gar nie jemanden umgebracht. Die Frage bleibt, ob er verrückt war oder verrückt spielte oder das Fernsehpublikum an der Nase herumführen wollte in seiner Rolle als Charles Manson.

Was passiert ist nachts, an diesem 9. August 1969: „Sharon Tate und weitere vier Menschen ermordet“, stand in der Los Angeles Times. „Hollywood – rituelle Morde“, hieß es im San Francisco Examiner. Oder: „Sexpot-Schauspielerin und vier andere ermordet“, stand in den New York Daily News. Es gab viel Blut am Tatort in der Villa im 10050 Cielo Drive, einer edlen Adresse im Großraum Los Angeles. Vier der fünf Opfer waren erstochen worden, eines wurde erschossen. Die hochschwangere Tate lag da mit sechzehn Wunden. Das weiße Kleid eines Opfers sei rot gefärbt gewesen vom Blut, schrieb Staatsanwalt Vincent Bugliosi. Und „Pig“ (Schwein) sei mit Blut auf eine Tür geschrieben gewesen.

Sharon Tate, 26 Jahre alt, war Schauspielerin und die Ehefrau von Regisseur Roman Polanski. Ebenfalls ermordet wurden Jay Sebring (35), Ex-Freund von Tate, die Kaffeekonzernerbin Abigail Folger (25) und deren Freund Voytek Frykowski (32) sowie der 18-jährige Steven Parent, der zufällig am Tatort war und die anderen gar nicht kannte. Die New York Daily News vermerkte: „Die grausige Szene mit Andeutungen eines bizarren religiösen Ritus erinnerte an Polanskis Filme.“ Der „Meister des Makabren“, Regisseur unter anderem des Horrorfilms Rosemaries Baby, produziert 1968, hielt sich zur Tatzeit für Dreharbeiten in Europa auf.

Das waren reale Morde in der Welt von Glamour und Fiktion und Fake. Und einen Tag danach noch einmal: Zwei ebenso blutige Opfer wurden ganz in der Nähe gefunden, die Leichen des Ehepaares Rosemary und Leno LaBianca, Letzterer Chef einer Kette von Lebensmittelläden. Auch hier Messerstiche, diesmal war „Death to Pigs“ (Tod den Schweinen) mit Blut an eine Wand geschmiert. Los Angeles bekam Angst, besonders die Unterhaltungsindustrie: Ein Monster war hier unterwegs. Hollywood-Stars sollen Schusswaffen gekauft haben. Manson sei der „gefährlichste Mann“ der Gegenwart, befand das Magazin Rolling Stone 1970.

Es sollte mehrere Monate dauern, bis es zu den Verfahren gegen die mutmaßlichen Täter kam, vier junge Frauen namens Leslie Van Houten, Patricia Krenwinkel, Susan Atkins und Linda Kasabian sowie zwei Männer, Charles Watson und der angebliche Anführer des Horrors: Charles Manson. Dieser hatte nach einer kaputten Kindheit die Hälfte seines Lebens in Erziehungsanstalten und Gefängnissen zugebracht. In den Medien wurden die Angeklagten alsbald bekannt als die „Manson-Familie“, die jungen Frauen gesondert als die „Manson Girls“. Manson habe Hippies um sich versammelt, um Orgien zu feiern und Drogen, vor allem LSD, zu konsumieren, hieß es. Die Kommune habe ihn verehrt wie Jesus Christus. Er soll von einer Apokalypse gesprochen haben und dem kommenden Krieg zwischen Schwarz und Weiß.

Ronald Reagan war zu jener Zeit Gouverneur von Kalifornien, der aus dem gleichen Bundesstaat stammende Richard Nixon saß im Weißen Haus. Beide Republikaner standen auf Kriegsfuß mit Hippies, illegalen Drogen und sexueller Freizügigkeit. Der frühere Hollywood-Schauspieler Reagan hatte im Wahlkampf seine Leute mit Warnungen vor moralischem Zusammenbruch bedacht. An der Universität Berkeley fänden Sexorgien statt und seien so „ekelhaft, dass ich sie Ihnen nicht beschreiben kann“, sagte Reagan seinen Wählern. In Indochina warfen US-Amerikaner, wesentlich jünger als Manson, Handgranaten, Napalm und Fliegerbomben und versprühten das Entlaubungsmittel „Agent Orange“. Ein halbes Jahr vor dem Massaker im Cielo Drive massakrierten US-Soldaten im südvietnamesischen Dorf My Lai Hunderte Frauen, Kinder und ältere Männer. In den USA kollidierten daraufhin Kriegsgegner mit dem Establishment und der Nationalgarde.

Schließlich kam es zu den Manson-Morden, nur kurz nach der ersten Mondlandung und ein paar Tage vor „Woodstock“ mit Janis Joplin, Jimi Hendrix, Santana und The Who. Das dreitägige Musikfestival gilt bis heute als eine Art Abgesang auf die zu Ende gehenden 1960er Jahre. Bei der eher vergeblichen Suche nach Sinn und Bedeutung von „Manson“ werden die Bluttaten häufig als brachiales Symbol für ein sich neigendes Zeitalter gedeutet, was vielleicht naheliegend erscheint, aber nicht zutrifft. So schrieb der Kulturhistoriker Jeffrey Melnick von der Universität Massachusetts in seinem Buch Creepy Crawling (2018) über das Phänomen Manson: Dieses habe vielen in der US-Gesellschaft eine Gelegenheit angeboten, den 1960er Jahren den Rücken zuzukehren. Das seien die Hippies gewesen, die Frauenbewegung, die Bürgerrechtler und Black-Power-Aktivisten, aber auch Junkies und andere. Sie alle seien aufgewühlt gewesen, viel Porzellan ging kaputt. Nach „Manson“ konnte man mit erhobenem Zeigefinger warnen: Dazu muss es kommen, wenn alle Regeln über Bord geworfen werden. Patriarch Manson und seine „Girls“ seien die Albtraum-Version dessen, was sich in amerikanischen Haushalten in den späten 1960er Jahren zugetragen habe, schreibt Jeffrey Melnick.

Lynette Fromme traf Charlie Manson 1967 im kalifornischen Venice. Sie war 18 Jahre alt und auf der Suche nach einer Bleibe. Ihr Vater hatte sie rausgeworfen. Manson kam aus dem Knast. Viele Jahre später hat Fromme die Begegnung beschrieben. Am meisten fasziniert hätten sie Mansons Augen. „Sie haben mich erkannt.“ Im leichten Südstaatenakzent – Manson verbrachte einen Teil seiner Kindheit in West Virginia und Kentucky – habe er ihr erklärt, wie sie sich befreien könne. „Der Weg nach draußen geht nicht durch die Tür.“ Erst wenn sie nicht rauswolle, sei sie frei. „Das Wollen hält dich fest.“ Fromme schloss sich der Gruppe an. An den Morden war sie nicht beteiligt, ging jedoch mit einer Pistole auf Präsident Gerald Ford los. Der Personenschutz packte Fromme. Wegen versuchten Mordes bekam sie eine lange Freiheitsstrafe und wurde erst 2009 entlassen.

Doch warum die Morde? Es darf spekuliert werden. Eine gängige These ist, die „Familie“ habe es auf einen früher in der Villa wohnenden Musikproduzenten abgesehen, der Mansons Karriere im Weg stand. Staatsanwalt Bugliosi erklärte im Prozess zum „Tate-LaBianca-Fall“, wie dieser inzwischen hieß: „Es waren Mansons Hass auf Menschen, seine Leidenschaft und Lust an deren gewaltsamem Tod.“ Es gebe keine Beweise, dass Manson selber getötet habe, räumte Bugliosi ein, doch als „der Anführer der Verschwörung“ sei er nach dem Gesetz „schuldig an den sieben Morden“.

Manson, Krenwinkel, Atkins und Van Houten wurden im März 1971 zum Tod in der Gaskammer verurteilt, Charles Watson ein paar Monate danach. Kasabian erhielt Immunität als Kronzeugin. Im Februar 1972 erklärte das Oberste Gericht von Kalifornien die Todesstrafe in diesem Bundesstaat für verfassungswidrig, sodass die „Manson-Familie“ fortan eine lebenslange Haftstrafe zu verbüßen hatte. Am 19. November 2017 teilte Kaliforniens Justizbehörde mit, „der Insasse Charles Manson (83)“ sei an diesem Tag „aus natürlicher Ursache um 20.13 Uhr verstorben“.

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