Tränengas wird aus einem Helikopter auf gut 1.300 Männer im Gefängnishof versprüht, Polizisten auf einer grauen Sicherheitsmauer eröffnen das Feuer. Minuten später sind 29 Häftlinge und zehn Vollzugsbeamte tot, es gibt mehr als 80 Verwundete. Am 13. September 1971 beendet im Staat New York ein Massaker im Gefängnis Attica den vier Tage zuvor ausgebrochenen Gefangenenaufstand. Berichte über den Vorfall zitieren häufig eine Aussage des offiziellen Attica-Untersuchungsausschusses (McKay-Kommission), eingesetzt von Gouverneur Nelson Rockefeller: „Außer den Massakern an Indianern im späten 19. Jahrhundert ... war der Ansturm der blutigste Zusammenstoß zwischen Amerikanern seit dem Bürgerkrieg von 1861 bis 1865.“
Im Dokumentarfilm Ghosts of Attica kommt der Häftling Frank „Big Black“ Smith zu Wort. „Ich habe den Hubschrauber gehört. Der Hubschrauber sagte, legt euch hin, Hände über den Kopf, und euch wird nichts geschehen.“ Er habe dem Folge geleistet. „Sie hatten uns eingekesselt. Sie schossen auf uns herunter. Ich konnte nicht einmal wegkriechen ... Wo auch immer man hinschaute – was man sehen konnte, war ein Schießen und Töten.“ Wie der Aufstand erstickt wurde, das war nicht nur ein Zeichen für mehr Repression, „Recht und Gesetz“, sondern ein politischer Einschnitt. Der republikanische Präsident Richard Nixon, doch ebenso demokratische Politiker hatten festgestellt: Rufe nach Ordnung kamen an bei weißen Bürgern, die sich von den 1960er-Jahren verunsichert fühlten.
Der Aufstand offenbarte, wie menschenunwürdig die Zustände in den Haftanstalten waren. Er stärkte eine junge Bewegung für Gefangenenrechte, die den elementaren Gedanken vertrat, dass man in Haft nicht alle Rechte verliert. In mehreren US-Vollzugsanstalten protestierten und streikten die Häftlinge Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre. Einer der Attica-Aufständischen, der 21-jährige Afroamerikaner L. D. Barkley, appellierte im Gefängnishof vor Fernsehkameras an das amerikanische Volk: „Wir sind Männer. Wir sind keine Bestien, und wir wollen nicht länger geschlagen und herumgetrieben werden.“ Viele Forderungen galten dem Alltag: Mindestlohn, freie Religionsausübung, besonders wegen der Diskriminierung muslimischer Häftlinge. Briefe und Lesematerial sollten nicht länger zensiert, eine berufliche Fortbildung und die ärztliche Versorgung besser werden. Die Gefangenen verlangten gesundes Essen und geschulte Wärter.
Bei Attica handelte es sich um ein Anfang der 1930er-Jahre erbautes Hochsicherheitsgefängnis. Zum Zeitpunkt der Revolte war es mit 2.000 Männern total überbelegt. Mehr als die Hälfte waren Afroamerikaner und die Vollzugsbeamten weiß. In der ländlichen Region um Attica mit 6.000 Einwohnern war „corrections officer“ eine begehrte Stelle mit festem Einkommen und Jobsicherheit. Drei Viertel der Gefangenen kamen aus städtischer Umgebung und damit einer Welt, zu der viele Schließer keinen Zugang hatten.
Die Historikerin Heather Ann Thompson hat 2016 nach langer Recherche ein Buch über den Aufstand veröffentlicht: Blood in the Water: The Attica Uprising of 1971 and its Legacy. Sie schreibt, Ende der 1960er habe sich die Zusammensetzung der Inhaftierten in Attica verändert. „Mehr Gefangene waren jung und politisch bewusst“, geprägt von der Bürgerrechtsbewegung sowie den Schriften von Malcolm X, Mao und Che Guevara. Die weißen Wärter wollten gegenüber diesen Männern besonders aggressiv durchgreifen. So fanden sich im Sommer 1971 Inhaftierte zur „Attica-Befreiungsfraktion“ zusammen, um mit Bittschriften die Haftumstände zu verbessern.
Lange vor Guantánamo und dem US-Foltergefängnis Abu-Ghraib im Irak waren die Zustände in Attica von gezielter Unmenschlichkeit. Jeder Häftling erhielt eine Rolle Toilettenpapier und ein Stück Seife im Monat. Einmal pro Woche durfte geduscht werden. 14 bis 16 Stunden am Tag waren die Männer in ihre fünf bis sechs Quadratmeter großen Zellen gesperrt mit Bett, Tisch, Stuhl, einem Metallschrank mit zwei Schubladen, Toilette und Ausguss. Für ihre Arbeit in der zur Anstalt gehörenden Möbelfabrik bekamen die Häftlinge 25 Cent bis zu einem Dollar am Tag. Demütigende Leibesvisitationen und Zellenrazzien waren Routine, bestraft wurde mit strikter Einzelhaft.
Am 21. August 1971 erschossen Wärter im kalifornischen San-Quentin-Gefängnis den Black-Panther-Führer George Jackson, angeblich bei einem Fluchtversuch. Einen Tag später zeigten Hunderte in Attica ihre Entrüstung. Im Bericht der McKay-Kommission hieß es, die Wärter seien in der Kantine „mit 700 schweigenden, hungerstreikenden Inhaftierten mit schwarzen Armbändern“ konfrontiert worden. „Das Schweigen der Männer und die Stimmung vorbehaltloser Feindseligkeit“ hätten die Schließer zutiefst eingeschüchtert.
Der Aufstand begann am 9. September. Etwa 20 Männer überwältigten mehrere Wärter und öffneten die Zellentüren. Häftlinge nahmen 42 Aufseher als Geiseln, versammelten sich im Hof und wählten ein Sicherheits- und ein Verhandlungskomitee. Namhafte Persönlichkeiten unterstützten die Häftlinge, darunter der Anwalt William Kunstler, der Kongressabgeordnete Herman Badillo und Clarence Jones, Verleger der schwarzen Zeitung New York Amsterdam News. Anfangs schien Verständigung möglich, auch wenn Gouverneur Rockefeller den Verhandlungen fernblieb, die weltweit Beachtung fanden. Am Morgen des 13. September wollte Rockefeller die Sache zu Ende bringen. Scharfschützen bezogen Stellung, die Medien hatten Horrorgeschichten verbreitet von brutalen Übergriffen der Aufständischen gegen Geiseln (ein Wärter war nach dem ersten Zusammenstoß tatsächlich an seinen Kopfverletzungen gestorben). Später sollten staatliche Autopsieberichte zeigen, dass die bei der Niederschlagung des Aufstandes ums Leben gekommenen Wärter durch Kugeln aus den Gewehren ihrer „Befreier“ gestorben waren.
Im August 2000 sprach ein New Yorker Bundesrichter etwa 500 am Aufstand Beteiligten acht Millionen Dollar Entschädigung zu. Richter Michael Telesca beklagte besonders die Untaten von Wärtern in den Stunden und Tagen nach dem Ansturm. Die Häftlinge mussten sich nackt ausziehen und in den nach heftigem Regen matschigen Hof legen. Wer sich falsch bewegte, wurde geschlagen, manchmal gefoltert. Frank „Big Black“ Smith berichtete von brennenden Zigaretten, die auf seinem Körper ausgedrückt wurden, und vom Spießrutenlaufen zwischen prügelnden Wärtern. Präsident Nixon spendete seinerzeit Rockefeller hohes Lob. Beim Telefonat mit dem Gouverneur wenige Stunden nach dem Massaker – als Online-Dossier vom Miller Center der Universität Virginia veröffentlicht – pries er dessen „Mut“. Nixon wollte wissen, ob man es hauptsächlich mit schwarzen Häftlingen zu tun habe. Rockefeller: „Die ganze Sache wurde von den Schwarzen angeführt.“ Nixons Stabschef Haldeman warnte vor Gerüchten über ein „Signal für den schwarzen Aufstand“. „Das Revolutionszeug“ bewege sich nun zu den Gefängnissen, weg von den Universitäten, wo sich nicht genug bewirken lasse. Man könne noch so viel reden über Radikale, so Nixon, nun wisse man, wie die zu stoppen seien: „Töte ein paar.“ Ob Haldeman sich an Kent State erinnere, fragte der Präsident. Dort, an der Universität in Ohio, hatten im Mai 1970 Nationalgardisten das Feuer auf Demonstranten eröffnet, die der US-Invasion in Kambodscha eine Absage erteilten. Die Uniformierten töteten zwei junge Männer und zwei junge Frauen. Nixon: Das habe eine starke Wirkung („one hell of an effect“) hinterlassen.
Ein Jahr nach dem Druck von Blood in the Water schrieb die Historikerin Thompson in der New York Times: „Attica, es ist schlimmer, als wir gedacht haben.“ Es habe dort staatlich finanzierte Experimente zur Erforschung von Lepra gegeben. Im heute verfügbaren Forschungspapier von 1972 bedankte man sich bei Attica-Insassen, die mitgemacht hätten, und bei der Gefängnisleitung.
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