2011: Besetzungsrecht

Zeitgeschichte Sie bringen Schlafsäcke und die Sehnsucht mit, etwas Neues anzufangen und vorzuleben, wie das aussehen könnte. In New York gibt die Occupy-Bewegung ihren Einstand
Ausgabe 31/2021
Motiviert von einem seriösen Anliegen, fand sogar der „New Yorker“
Motiviert von einem seriösen Anliegen, fand sogar der „New Yorker“

Foto: UPI Photo/Imago Images

Die 99 Prozent gegen das eine Prozent der Elite, lautete die Devise. Und sie sollte sich Geltung verschaffen. Als die Occupy-Bewegung vor einem Jahrzehnt antrat, begann es in New York City mit einer Besetzung der Wall Street sowie eines Parks in deren Nähe. Occupy wurde vorübergehend zur größten US-Protestbewegung seit Jahrzehnten und fiel dann auseinander, irgendwie oder auch nicht. Präsident Biden hätte wohl keine seiner – für US-Verhältnisse tiefgreifenden – Wirtschaftsreformen vorgelegt ohne diese Vergangenheit der Rebellion.

September 2011, Hoffnungsträger Barack Obama war Präsident, Banken und Konzerne hatten sich mit Regierungshilfen von der Finanzkrise 2008/09 erholt, der Rest der Nation weniger. Zukunftssorgen plagten viele junge Menschen. In Tunesien, Ägypten, Algerien und Bahrain hatte der Arabische Frühling vorgeführt, dass Bewegungen von unten, die für Demokratie und ein menschenwürdiges Dasein eintreten, die Mächtigen ins Schwitzen bringen.

Erstmals trat „Occupy“ am 17. September 2011 im dreitausend Quadratmeter kleinen Zuccotti-Park im Finanzdistrikt von Manhattan in Erscheinung. Ein Platz im Schatten von Bürohochhäusern, mit Betonplatten, ein paar Dutzend Laubbäumen und steinernen Bänken, auf denen normalerweise an Schreibtischen Beschäftigte zur Mittagspause mit einem Sandwich von zu Hause oder einem Schnellgericht auf Styroportellern saßen. In einer Ecke steht die Skulptur „Joie de Vivre“.

Ein paar hundert Verwegene waren einem Aufruf im kapitalismuskritischen Magazin adbusters.org gefolgt: #OCCUPYWALLSTREET. Sie kamen, brachten Zelte, Schlafsäcke und die Sehnsucht mit, etwas Neues anzufangen und schon einmal vorzuleben, wie es aussehen könnte. Dafür, dass sich die Bewegten für den Platz entschieden hatten, der nach dem 2015 verstorbenen Immobilienunternehmer und früheren Vizebürgermeister von New York, John Zuccotti, benannt war, gab es einen praktischen Grund: Für den Zuccotti-Park galt das rechtliche Konstrukt einer privat-öffentlichen Partnerschaft, und er war rund um die Uhr geöffnet.

John Zuccotti habe das Occupy-Camp auf seinem Platz besucht, hieß es in der New York Times. Die Atmosphäre sei „etwas festlich“ gewesen, sagte Zuccotti. „Das ist der Anfang der Revolution“, stand auf Pappschildern. Und: „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Wir wollen die Welt verändern.“ Oder: „Die Wall Street ist Nero, und Rom brennt.“ Und: „Besteuert die Reichen! Krankenversicherung für alle!“

Viele auf dem Platz waren empörte junge Menschen, die sich nicht repräsentiert fühlten in linksliberalen Kreisen, wo man nach acht Jahren George W. Bush und Kriegen im Irak und in Afghanistan auf Zehenspitzen ging, um dem ersten schwarzen Präsidenten nicht „von links“ zu schaden. Es gab eine Bibliothek, dazu eine Küche, um die Teilnehmer zu versorgen, und einen Generator für den Strom. Ein Trommelkreis gab den Rhythmus vor, eine Mediengruppe schrieb eine Zeitung, Besetzer brachen auf zu Kundgebungen. Slavoj Žižek, Naomi Klein, Joseph Stiglitz und Jeffrey Sachs sprachen.

Todd Gitlin, Professor für Journalismus in New York City sowie Autor von Büchern zu Politik und Gesellschaft, war Mitte der 1960er Jahre Präsident der Students for a Democratic Society im Zentrum der Studentenbewegung. Occupy hat ihn beeindruckt. Er beschreibt das Phänomen heute weniger als politische Bewegung denn als „ein persönliches und kollektives Zeugnisablegen“ gegen nicht mehr tragbare Zustände. Keine gemeinsamen, konkreten Forderungen zu haben, gehörte zum Selbstverständnis. Man sei eine „führerlose Widerstandsbewegung“, deren Mantra laute: „Wir sind die 99 Prozent, die Gier und Korruption des einen Prozents nicht mehr tolerieren.“

Kameras waren zur Überwachung installiert, die Polizei stellte Metallbarrieren um den Park, wo die Frage diskutiert wurde, ob Occupy konkreter werden müsse. Horizontal sein wurde großgeschrieben. Um sich zu beraten, gab es „Generalversammlungen“. Da Occupy keine Demonstrationserlaubnis hatte, durften keine Lautsprecher verwendet werden. Das Volksmikrofon prägte den Umgang. Ansprachen wurden satzweise von denen wiederholt, die dem Redner am nächsten standen. Die Medien hatten Probleme mit Occupy, obwohl das mit den 99 Prozent doch nicht so kompliziert erschien. Es gab keine Anführer und Experten, um vor die Kameras zu treten und für Occupy zu sprechen. Im New Yorker, einem Magazin für die Gepflegten und Gebildeten, berichtete ein Schreiber über eine „bunte Ansammlung von Taugenichtsen, Studenten, Sozialisten, Feministinnen und Hippies“, räumte aber ein: Die Protestierenden seien motiviert von einem seriösen Anliegen, „dem angeblichen Takeover des politischen Systems durch das reichste eine Prozent“.

Videos von Polizeibrutalität überlagerten die Berichterstattung. So entsetzten die Aufnahmen von Polizisten, die Demonstranten mit orangen Netzen einschnürten und einer jungen Frau Pfefferspray ins Gesicht sprühten. Ende September 2011 nahmen New Yorker Cops mehr als 700 Occupy-Anhänger fest beim Überqueren der Brooklyn Bridge. Der Staat und seine Sicherheitsorgane wollten nicht zulassen, dass öffentliche Räume besetzt wurden. In New York City kam es insgesamt zu etwa 2.000 Festnahmen, im ganzen Land gab es zwischen September 2011 und Juni 2014 7.775 Verhaftungen in 122 Städten, dokumentiert die Website OccupyArrests. Obama sagte Mitte Oktober 2011 im Kanal ABC, er verstehe die Frustrationen, die bei den Protesten zum Ausdruck kämen. Für die Besetzer wurde es schwieriger, nicht nur wegen der Polizei. Es war Herbst und würde bald Winter sein. Wie aushalten auf den Steinplatten im Zuccotti-Park? Die Besetzungen, mit denen sie den Platz beanspruchten, den ihre Anliegen verdienten, wurden zusehends zur Bürde. Zudem waren wegen der horizontalen Struktur Entschlüsse schwierig. Den mit logistischen Problemen beschäftigten und der Polizei ausgesetzten Besetzern fehlte der nötige Kontakt mit außenstehenden Sympathisanten.

Ein Bericht des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach von „regelrechten Klassenkonflikten“ im Zuccotti-Park, bei denen es auch um Leute ging, die wegen der kostenlosen Verpflegung oder sicheren Schlafplätze kamen, aber den Protestcharakter verkannten. John Zuccotti erwähnte den Unrat im Park und meinte, „früher oder später werden wir hineingehen und saubermachen müssen“. Das wurde zum Vorwand für den Polizeieinsatz am 15. November kurz nach Mitternacht. An die 200 Besetzer wurden festgenommen. Polizisten warfen Zelte, Schlafsäcke und Rucksäcke in Müllcontainer. Die hygienischen Zustände seien nicht mehr hinnehmbar, so die Begründung von Bürgermeister Michael Bloomberg, einem der reichsten Männer in den USA, das personifizierte Aushängeschild für das eine Prozent.

Aus heutiger Sicht wird deutlich, dass Occupy die gesellschaftliche Debatte verändert hat. Die Bewegung sagte laut und gemeinsam, was „eigentlich“ längst bekannt war: Die Macht des Geldes über die Politik deckte sich nicht recht mit dem gepflegten Image der USA als eines demokratischen Musterlandes. Vor allem junge Menschen erfuhren, dass der Kapitalismus und die Zusage, die Jungen würden es einmal besser haben als ihre Eltern, doch nicht so gut funktionierten. Occupy-Aktivisten gingen nun in die Initiativen für 15 Dollar Mindestlohn, sie kamen zu Protesten gegen Erdöltrassen, bis Black Lives Matter die Kritik an der ungleichen Behandlung durch Polizei und Wirtschaft fortsetzte. Auch ein Ausdruck moralischer Empörung, doch auf konkrete Reformvorhaben bedacht, so Todd Gitlin.

2016 trat Senator Bernie Sanders mit einem Programm hervor, das den Aufschrei konkret machte. Mehrheitsfähig war die politische Revolution letztlich nicht bei der Präsidentschaftswahl 2020, doch regiert der Sieger Joe Biden so, als habe er bei Occupy zumindest zugehört und aufgepasst.

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