Baldriantropfen reichen nicht

USA Joe Biden versucht verzweifelt, als Wahlkämpfer und Trump-Gegner wahrgenommen zu werden
Ausgabe 21/2020

Joe Biden, der seit einem halben Jahrhundert in der Politik stehende Präsidentschaftsanwärter, hat Probleme beim virtuellen Wahlkampf. Es ist nicht besonders klar, wie sich der frühere Vizepräsident die USA vorstellt, sollte die Corona-Infektionskurve irgendwann einmal abflachen. Doch nun kommt anscheinend etwas Bewegung in seine Kampagne. Er hat Platz gemacht für Bernie Sanders’ Leute und Mitte Mai Arbeitsgruppen vorgestellt für umfassende Konzepte einer neuen Politik. Er wolle dafür sorgen, „dass wir nicht nur die Uhr zurückstellen zu einer Zeit vor Donald Trump, sondern unsere Nation umwandeln“.

Das soll Signalwirkung haben: Ihn unterstützen prominente Sanders-Wahlhelfer wie die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, mit Ex-Außenminister John Kerry nun Co-Vorsitzende der Klima-Arbeitsgruppe. Co-Vorsitzende eines Gesundheitsteams ist die Abgeordnete Pramila Jayapal, Befürworterin einer staatlichen Krankenversicherung. Ocasio-Cortez und Jayapal sind keine Politikerinnen, die sich nur als Aushängeschilder benutzen lassen. Zahlreiche bitterböse Twitter-Schreiber freilich wittern Verrat, sie trauen Biden nicht, es handle sich um einen Politiker, der sich den Umständen anpasse. Biden hat freilich die Vorwahlen gewonnen, weil er den offenbar viele US-Amerikaner beruhigenden Eindruck vermittelte, Normalität und Kompetenz zu repräsentieren.

Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, als man in den USA die Infizierten noch in Tausenden zählte und die Zahl der Toten täglich bei Dutzenden und Hunderten lag. Inzwischen sind es etwa 1,5 Millionen Infizierte und 90.000 Tote. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 15 Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit 1945. Zahllose kleine Geschäfte sind am Ende. Tausende Menschen stehen Schlange, wenn Lebensmittel verteilt werden.

Es dringt bis in die politische Mitte durch, dass Baldriantropfen nicht mehr reichen. Manche Demokraten sind frustriert über Bidens Wahlkampf. Es fehlt die Dynamik, das Aufgebrachtsein. In US-Medien kommt der Kandidat in Meldungen über einen Wahlkampf vor, der „vom Keller seines Wohnhauses in Delaware“ geführt werde, wie es heißt, oder wenn er gelegentlich Trumps „korruptes und ineffektives“ Vorgehen attackiert. Und – das ist besonders prekär –, wenn es um Beschuldigungen einer Frau geht, Joe Biden habe sie vor 27 Jahren sexuell bedrängt.

Alternative Howie Hawkins

Barack Obamas Wahlmanager David Axelrod und David Plouffe haben in der New York Times wohlwollend harte Kritik geübt an Bidens Wahlkampfstil. Er komme rüber, so hieß es, „wie ein Astronaut, der von einer Raumstation mit der Erde kommuniziert“. Online-Ansprachen machten heutzutage wenig Eindruck, und schriftliche Kommentare seien früher einmal wichtig gewesen. Trump und die Republikaner nutzten die digitale Welt um ein Vielfaches besser. „Team Trump weiß, wo und wie Wähler ihre Informationen beziehen, und es testet Content ausführlich, um herauszufinden, was konsumiert und geteilt wird.“

Im progressiven Amerika trauert man Sanders’ Kandidatur nach und der „politischen Revolution“, die bei demokratischen Vorwählern keine Mehrheit gefunden hat. Nun wiederholt sich die unsägliche linke Debatte, ob man es mit seiner Überzeugung vereinbaren kann, so jemanden wie den Establishment-Politiker Biden zu wählen, und ob es taktisch und strategisch nicht doch besser wäre für den Aufbau einer linken Bewegung, den Bewerber einer anderen Partei zu wählen. Der grüne Anwärter Howie Hawkins bietet sich an, der trotz vieler Versuche noch nie eine Abstimmung gewonnen hat.

Für Aufsehen im linken Milieu gesorgt hat Bhaskar Sunkara, Verleger des sozialistischen Magazins Jacobin, mit seinem Statement auf Twitter, er werde für Hawkins stimmen. Sunkara hat seinen Tweet im Wochenblatt The Nation so erläutert: Biden konzentriere sich auf moderate Wähler der Mittelklasse in den Suburbs, die Führung der Demokraten bemühe sich eher um die rechte Mitte als um den linken Flügel, eine Regierung Biden werde nicht besonders reformfreudig sein. Er, Sunkara, lebe zudem in einem mehrheitlich demokratischen Bundesstaat. Was wohl heißen sollte, Biden werde dort ohnehin gewinnen, also könne er sich die Hawkins-Stimme erlauben.

Ocasio-Cortez dagegen schrieb, sie habe schon immer die Ansicht vertreten, dass wirkliche Veränderungen nicht von Arbeitsgruppen ausgingen, sondern „von alltäglichen Menschen“, die als Massenbewegung zueinanderfänden. Doch müsse man „jeden Raum besetzen, wo Entscheidungen getroffen und gestaltende Gespräche stattfinden“. Und Bernie Sanders lobte, Biden habe seine Arbeitsgruppen im Dialog mit der Sanders-Kampagne gebildet und „das Richtige getan“, um die Demokraten „auf einen transformativen und progressiven Kurs“ auszurichten.

Griff in die Unterwäsche

Jedoch hängt über Biden nun der Vorwurf seiner früheren Mitarbeiterin Tara Reade, er habe sie 1993 gegen eine Wand gedrängt und ihr in die Unterwäsche gegriffen. Das sei nie passiert, kontert der Beschuldigte. Ihm freundlich gesinnte Medien bringen vor, Reades Aussage habe sich im Laufe der Zeit verändert. Ihre Schriften werden durchleuchtet auf politische Motive hin. Reade hat ihre Aussagen bekräftigt und Biden zum Rückzug aufgefordert – bei Wählern bleibt Ratlosigkeit

Der Kongress arbeitet an einem neuen Corona-Hilfspaket. Man will das Arbeitslosengeld aufstocken, einen besseren Arbeitsschutz durchsetzen und den Millionen Erwerbslosen helfen, die ihre Krankenversicherung verloren haben. Dazu soll es Mittel für eine umfassende Briefwahl beim Präsidentenvotum geben. Die Demokraten können sich nicht darauf verlassen, dass eine Mehrheit Trump den Rücken kehrt wegen seiner bizarren Auftritte seit Ausbruch der Virus-Krise. Im Mai haben in Kalifornien und Wisconsin die republikanischen Anwärter bei zwei Nachwahlen für das Repräsentantenhaus die Mandate geholt.

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