Joe Biden, der seit einem halben Jahrhundert in der Politik stehende Präsidentschaftsanwärter, hat Probleme beim virtuellen Wahlkampf. Es ist nicht besonders klar, wie sich der frühere Vizepräsident die USA vorstellt, sollte die Corona-Infektionskurve irgendwann einmal abflachen. Doch nun kommt anscheinend etwas Bewegung in seine Kampagne. Er hat Platz gemacht für Bernie Sanders’ Leute und Mitte Mai Arbeitsgruppen vorgestellt für umfassende Konzepte einer neuen Politik. Er wolle dafür sorgen, „dass wir nicht nur die Uhr zurückstellen zu einer Zeit vor Donald Trump, sondern unsere Nation umwandeln“.
Das soll Signalwirkung haben: Ihn unterstützen prominente Sanders-Wahlhelfer wie die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, mit Ex-Außenminister John Kerry nun Co-Vorsitzende der Klima-Arbeitsgruppe. Co-Vorsitzende eines Gesundheitsteams ist die Abgeordnete Pramila Jayapal, Befürworterin einer staatlichen Krankenversicherung. Ocasio-Cortez und Jayapal sind keine Politikerinnen, die sich nur als Aushängeschilder benutzen lassen. Zahlreiche bitterböse Twitter-Schreiber freilich wittern Verrat, sie trauen Biden nicht, es handle sich um einen Politiker, der sich den Umständen anpasse. Biden hat freilich die Vorwahlen gewonnen, weil er den offenbar viele US-Amerikaner beruhigenden Eindruck vermittelte, Normalität und Kompetenz zu repräsentieren.
Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, als man in den USA die Infizierten noch in Tausenden zählte und die Zahl der Toten täglich bei Dutzenden und Hunderten lag. Inzwischen sind es etwa 1,5 Millionen Infizierte und 90.000 Tote. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 15 Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit 1945. Zahllose kleine Geschäfte sind am Ende. Tausende Menschen stehen Schlange, wenn Lebensmittel verteilt werden.
Es dringt bis in die politische Mitte durch, dass Baldriantropfen nicht mehr reichen. Manche Demokraten sind frustriert über Bidens Wahlkampf. Es fehlt die Dynamik, das Aufgebrachtsein. In US-Medien kommt der Kandidat in Meldungen über einen Wahlkampf vor, der „vom Keller seines Wohnhauses in Delaware“ geführt werde, wie es heißt, oder wenn er gelegentlich Trumps „korruptes und ineffektives“ Vorgehen attackiert. Und – das ist besonders prekär –, wenn es um Beschuldigungen einer Frau geht, Joe Biden habe sie vor 27 Jahren sexuell bedrängt.
Alternative Howie Hawkins
Barack Obamas Wahlmanager David Axelrod und David Plouffe haben in der New York Times wohlwollend harte Kritik geübt an Bidens Wahlkampfstil. Er komme rüber, so hieß es, „wie ein Astronaut, der von einer Raumstation mit der Erde kommuniziert“. Online-Ansprachen machten heutzutage wenig Eindruck, und schriftliche Kommentare seien früher einmal wichtig gewesen. Trump und die Republikaner nutzten die digitale Welt um ein Vielfaches besser. „Team Trump weiß, wo und wie Wähler ihre Informationen beziehen, und es testet Content ausführlich, um herauszufinden, was konsumiert und geteilt wird.“
Im progressiven Amerika trauert man Sanders’ Kandidatur nach und der „politischen Revolution“, die bei demokratischen Vorwählern keine Mehrheit gefunden hat. Nun wiederholt sich die unsägliche linke Debatte, ob man es mit seiner Überzeugung vereinbaren kann, so jemanden wie den Establishment-Politiker Biden zu wählen, und ob es taktisch und strategisch nicht doch besser wäre für den Aufbau einer linken Bewegung, den Bewerber einer anderen Partei zu wählen. Der grüne Anwärter Howie Hawkins bietet sich an, der trotz vieler Versuche noch nie eine Abstimmung gewonnen hat.
Für Aufsehen im linken Milieu gesorgt hat Bhaskar Sunkara, Verleger des sozialistischen Magazins Jacobin, mit seinem Statement auf Twitter, er werde für Hawkins stimmen. Sunkara hat seinen Tweet im Wochenblatt The Nation so erläutert: Biden konzentriere sich auf moderate Wähler der Mittelklasse in den Suburbs, die Führung der Demokraten bemühe sich eher um die rechte Mitte als um den linken Flügel, eine Regierung Biden werde nicht besonders reformfreudig sein. Er, Sunkara, lebe zudem in einem mehrheitlich demokratischen Bundesstaat. Was wohl heißen sollte, Biden werde dort ohnehin gewinnen, also könne er sich die Hawkins-Stimme erlauben.
Ocasio-Cortez dagegen schrieb, sie habe schon immer die Ansicht vertreten, dass wirkliche Veränderungen nicht von Arbeitsgruppen ausgingen, sondern „von alltäglichen Menschen“, die als Massenbewegung zueinanderfänden. Doch müsse man „jeden Raum besetzen, wo Entscheidungen getroffen und gestaltende Gespräche stattfinden“. Und Bernie Sanders lobte, Biden habe seine Arbeitsgruppen im Dialog mit der Sanders-Kampagne gebildet und „das Richtige getan“, um die Demokraten „auf einen transformativen und progressiven Kurs“ auszurichten.
Griff in die Unterwäsche
Jedoch hängt über Biden nun der Vorwurf seiner früheren Mitarbeiterin Tara Reade, er habe sie 1993 gegen eine Wand gedrängt und ihr in die Unterwäsche gegriffen. Das sei nie passiert, kontert der Beschuldigte. Ihm freundlich gesinnte Medien bringen vor, Reades Aussage habe sich im Laufe der Zeit verändert. Ihre Schriften werden durchleuchtet auf politische Motive hin. Reade hat ihre Aussagen bekräftigt und Biden zum Rückzug aufgefordert – bei Wählern bleibt Ratlosigkeit
Der Kongress arbeitet an einem neuen Corona-Hilfspaket. Man will das Arbeitslosengeld aufstocken, einen besseren Arbeitsschutz durchsetzen und den Millionen Erwerbslosen helfen, die ihre Krankenversicherung verloren haben. Dazu soll es Mittel für eine umfassende Briefwahl beim Präsidentenvotum geben. Die Demokraten können sich nicht darauf verlassen, dass eine Mehrheit Trump den Rücken kehrt wegen seiner bizarren Auftritte seit Ausbruch der Virus-Krise. Im Mai haben in Kalifornien und Wisconsin die republikanischen Anwärter bei zwei Nachwahlen für das Repräsentantenhaus die Mandate geholt.
Kommentare 9
Ich glaube, gemäßigte Linke (worunter in dem Kontext auch Leute zu subsummieren sind, die im Kern eher wirtschaftsliberal sind) wollen im Grunde nicht gewinnen; »gemäßigte Linke« und »feuriger Wahlkampf« schließen sich aus wie Feuer und Eis. Es mag historische Ausnahmen geben (Kennedy, Schröder); im Normalfall betätigt sich indess die gemäßigte Linke – siehe die drei letzten SPD-Kanzlerkandidaten oder auch Hillary Clinton und Biden – stets als mehr oder weniger schlecht getarnter Steigbügelhalter der Rechten. So USA: Biden erweckt konstant den Eindruck, vom Sofa aus in den Kampf getragen werden müssen; das lustlos absolvierte Hobbykeller-Programm passt dazu wie die Faust aufs Auge.
Auf die Jagd, zu der der echte Kandidat getragen werden muß, gehen notgedrungen die echten Linken – also Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez: Leute somit, die (im Gegensatz zu den gemäßigten oder auch Pseudo-Linken) wissen, was blüht, wenn die Rechte an die Macht kommt oder an dieser verbleibt. Bei Biden kann man davon ausgehen, dass ihm das herzlich egal ist. Durch die Bank vermittelt er den Eindruck, dass er bereits weiß, dass er gegen Trump verloren hat und bereit ist, dies zu akzpetieren.
In Deutschland haben wir mit dem Modell »erst immerhin ein bißchen links – dann ›das-kleinere-Übel‹-Links – dann offene Unterstützung der Rechten – dann Rechte solo« die allerbeste Expertise. Von Noske und Ebert führte der Weg zu Brüning, von Brüning zu Papen, und von Papen zu Hitler. Die SPD hat es 2016 vorexerziert, wie man – Vorsicht, man könnte gewinnen! – einen nicht allzu schlechten Kandidaten verheizt. Was tun? Die US-Wahl ist gelaufen. Die gute Nachricht in der schlechten: Das gibt den echten Linken vier zusätzliche Jahre, in denen man sich vielleicht was Neues ausdenken kann.
Eine neue Partei, eine eigene Kandidatur? Wenn marktradikale Unternehmer vom rechten Demokraten-Rand mit sowas drohen können – wieso dann nicht auch die Linken?
Es ist immerhin so gekommen, daß nach Sanders Aufgabe die einzige Chance ergriffen wurde, die es noch gab, nämlich daß Leute vom "Sanders"-Spektrum, wenn man es so nenne kann, in den völlig blutleeren Wahlkampf von Biden einsteigen oder sogar hereingebeten werden. Würde Biden da nicht machen, er hätte absolut keine CHance gegen Trump, egal ob Corona oder Trumpirrsinn.
Man munkelt ja schon, daß der erzreaktionäre Fox-Sender sich von Trump entfernt. Eingetlich ist alles Wurst, hauptsache Trump und seine evangelikale Endkampfklerikertruppe ist weg. Es kann, bis auf Krieg, nicht schlimmer werden, eher besser.
Der Wahlkampf von Sanders war leidenschaftlich. Biden hat es schon mal vergeigt. Sanders hätte eine Chance verdient. Gerade durch Corona sind die Missstände in den USA zu Tage getreten. Und deshalb wäre jetzt eine gute Gelegenheit linke Politik hoffähig zu machen.
Über Biden schwebt übrigens ein riesiger Korruptionsskandal, von dem bisher nur die Spitze des Eisbergs bekannt wurde:
https://www.anti-spiegel.ru/2020/abgehoerte-telefonate-von-joe-biden-der-chronologie-des-vielleicht-groessten-korruptionsskandals-der-geschichte/
Wetten dass Trump den kurz vor der Wahl so richtig blosstellt ? So ist dass halt wenn man Kandidaten nimmt die Dreck am Stecken haben. Den sauberen Sanders wollte man ja nicht.
Sie kommen allen ernstes mit einer russischen website zum US Wahlkampf an? Putin hat seine Manipulationspropagandamaschine offenbar bereits angefahren.
Es ist im Grunde richtig, dass Biden sich im Moment eher zurückhält. Für einen offensiven Wahlkampf wäre es noch viel zu früh. Und Trump tut ihm den Gefallen sich gerade selbst lächerlich zu machen. Viel besser könnte es für Biden eigentlich nicht laufen.
Mir wären Sanders oder Warren auch lieber gewesen und wäre Corona vor einem Jahr passiert, hätten sie vielleicht sogar eine Chance gehabt. Doch das ist Schnee von gestern.
Eine Stärke, die ihn schon als Obama-Vize ausgezeichnet hat, ist, dass Biden ein guter Team-Player ist. Und wenn er demokratische Partner wie Sanders konstruktiv in seinen Wahlkampf mit einbezieht, und eine überzeugende Vize Kandidatin nominiert, die seine Schwächen ausbalanciert, stehen seine Chancen gar nicht schlecht.
Na klar, warum auch nicht. Weil ich vom ganzen "Putin manipuliert U.S. Wahl" Quatsch noch nie irgendwas gehalten habe.
Die russische Webseite ist übrigens ein Blog von Thomas Röper, der macht sowas wie bildblog.de
Ich fand die dortige Chronologie zur "Ukraine Affäre" eine ziemlich gute Ergänzung zu Artikeln im Spiegel oder anderswo. Haben sie das überhaupt gelesen, oder stört sie nur das .ru in dem Link ?
Wenn ihnen das nicht "seriös" genug ist dann bleiben sie doch bei der Tagesschau.
Macht Sie nicht schon die Überschrift "vielleicht größten Korruptionsskandals der Geschichte" etwas stutzig? Die Geschichte ist sehr lang und sehr breit, und was allein Putin an offener Korruption demonstiert - er ist als Präsident eines eher nicht so reichen Landes einer der reichsten Männer der Erde - schlägt was in der Urkaine vorgefallen ist, mindestens um den Faktor 100.
Die Überschrift bezieht sich wohl auf die Summe von 40 Millarden die im Zuge des "Regierungswechsels" in der Ukraine "verschwunden" sind. Oder auf die Personen die alle darin verwickelt sind, darunter Präsidenten und Vizepräsidenten, Botschafter etc. Finde ich auf jeden Fall beachtlich.
Die Ukraine ist eines der korruptesten Länder überhaupt. 130 von 167 laut Korruptionsindex. Das man so was da erwarten kann macht es nicht besser. Und wenn ein U.S. Präsidentschaftskandidat da seine Finger drin hatte sollte man es schon wissen dürfen.
Wenn der dann das Beste ist, was die Demokraten gegen Trump auffahren, ist das ein absolutes Armutszeugnis. Gegen den kann man eigentlich nicht verlieren, oder ?
Ich finde es auch irgendwie bezeichnend dass ich hier über "Putin's" Korruption diskutieren soll, beim Thema Joe Biden ?!
Was hat Putin jetzt schon wieder mit dem zu tun ? Man könnte meinen alles was irgendwelchen Politikern der U.S.A. nützt oder schadet ist irgendwie mit Putin verknüpft.