Der Blutdrucksenker

Porträt Michael Kretschmer will das Ansehen Sachsens wiederherstellen – mit Diplomatie als Drahtseilakt
Ausgabe 33/2018
Nicht rechts, nicht links, dafür pragmatisch und problemsensibel. Im Vergleich zum Vorgänger wirkt der Landesvater geradezu vital
Nicht rechts, nicht links, dafür pragmatisch und problemsensibel. Im Vergleich zum Vorgänger wirkt der Landesvater geradezu vital

Foto: Robert Michael/Imago

Dass er ein „rechter Politiker“ sei, werde man „nie von ihm hören“, sagte Michael Kretschmer kurz nachdem ihn Stanislaw Tillich als neuen sächsischen CDU-Ministerpräsidenten vorgeschlagen hatte. Es hat einen Grund, dass er das vorweg untermauern musste. Hier, wo die AfD bei der Bundestagswahl mit 27 Prozent der Zweitstimmen stärkste Kraft wurde, wo 2017 noch immer ein Großteil der bundesweiten Übergriffe auf Asylsuchende verübt wurde, hat „rechts“ manchmal eine andere Klangfarbe. Genau wie „links“. Kretschmers Parteikollege Daniel Günther gab vorige Woche bekannt, dass er eine Koalition mit der Linkspartei nicht ausschließe, wenn dies die einzig verbleibende Möglichkeit einer Regierungsbildung ohne die AfD wäre. Kretschmer entgegnete, das käme für ihn nicht infrage.

Dabei ist eine Regierungsbeteiligung der AfD in Sachsen so wahrscheinlich wie nirgendwo sonst in Deutschland. Kaum einer hat das deutlicher gespürt als Kretschmer. 2017 verlor er das Mandat in seinem Landkreis Görlitz, wo der studierte Wirtschaftsingenieur geboren und aufgewachsen ist, an einen AfD-Abgeordneten. Wie will Kretschmer verhindern, dass sich die Niederlage bald auf höherer Ebene wiederholt, dass Sachsen nach der Landtagswahl 2019 blau regiert wird?

Die Generalsekretärin der Sachsen-SPD, Daniela Kolbe, warf ihm eine Art von strategischer Pendelgesinnung vor, nannte ihn ein politisches „Chamäleon“. Als Kretschmer noch als Abgeordneter im Deutschen Bundestag saß, wäre seine Politik eher „liberal“ gewesen, so Kolbe. In Sachsen hingegen schlüge er gern „sehr rechte“ Töne an.

Im Vergleich geradezu vital

Ist das so? Zusammen mit den Ministern seines Koalitionspartners SPD begibt er sich mehrfach im Monat zu „Sachsengesprächen“ in die Stadthallen des Freistaats. Vergangenen Montag verschlug es ihn nach Riesa, in den sogenannten ländlichen Raum, der ihm sehr wichtig sei, wie er an diesem Abend oft betont. Er will anders sein als sein Vorgänger – meinungsstark, empathisch, volksnah. In der Debatte um eine „Dienstpflicht“ plädierte er jüngst für eine Volksbefragung.

Tillich, der Sachsen knapp neun Jahre regierte, gebärdete sich seinerzeit derartig zurückhaltend, dass ihm sogar parteiintern vorgeworfen wurde, den Job gar nicht zu wollen. Tatsächlich wirkt der 43-jährige Kretschmer im Vergleich zu ihm geradezu vital. Sein Terminkalender ist voll: Besuch beim Siemens-Werk in Görlitz, auswärtige Kabinettssitzung in Brüssel, Teilnahme bei den Feierlichkeiten „10 Jahre Erzgebirgskreis“.

Am Montagabend in Riesa wirkt Kretschmer müde. Trotzdem ist er hervorragend vorbereitet, kann zu jedem noch so partikularen Anliegen der Bürger etwas sagen. Anwohner aus dem nahe gelegenen Gröditz wollen von ihm wissen, wieso Geld für Großbauprojekte da ist, die intakte Gröditzer Schwimmhalle aber nicht in Betrieb genommen werden kann. Kretschmer, der in seiner Heimat jahrelang Gemeinderat war, weiß zu kontern: „Eine Schwimmhalle gehört zu den teuersten Dingen, die sich eine Gemeinde leisten kann.“ Die Bürger müssen sich freundlich belehren lassen, dass Inbetriebnahme und Betrieb zwei paar Schuhe sind.

In anderthalb Stunden manövriert Kretschmer so durch die Sorgen der sächsischen Bürger: Windkraft, Hochwasser, Lehrermangel und natürlich die nicht fertig werdende Umgehungsstraße, die die knapp 30.000 Einwohner entlasten soll. Kretschmer hat auf alles eine Antwort, auch wenn er häufig abwiegeln muss, auf noch anstehende Gespräche oder schwierige Sachzwänge verweist. Die Bürger fühlen sich ernst genommen und bedanken sich sogar für bereits Realisiertes.

Der Islam und Sachsen

Als am Ende doch die Geflüchteten zum Thema werden, kann sich Kretschmer ein tiefes Durchatmen nicht verkneifen. „Wenn ich sage, der Islam gehört nicht zu Sachsen, bin ich nun ein Populist, ein Rechter?“, fragt ein Teilnehmer. Seine Stellung zur Migrationspolitik wiederholt Kretschmer wie ein Mantra: Es gibt Probleme, straffällig gewordene Geflüchtete haben ihr Gastrecht verwirkt, die doppelte Staatsbürgerschaft lehnt er ab. Sofort erzählt er aber auch von einem „Farbigen“, einem migrierten Arzt, den er kürzlich kennenlernte und der „ganz klar eine Bereicherung“ sei. Seine Diplomatie wirkt, der Blutdruck in seiner Gesprächsrunde sinkt spürbar.

Nebenan gelingt das nicht. Kretschmers Integrationsministerin Petra Köpping hat an diesem Abend die wohl schwierigste Aufgabe. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ein aufgebrachter Riesaer ihr vorwirft, die Politiker würden „das Volk verarschen“, worauf er von den Umstehenden Beifall erntet. Die letzte Stadtratswahl in Riesa war Mitte 2014. Die AfD spielte da noch keine große Rolle. In den Stadtrat zogen zwei NPD-Abgeordnete ein.

Von „sehr rechten Tönen“ ist an diesem Abend, zumindest aus den Mündern der Politiker, nichts zu hören. Dennoch wird deutlich, wie sehr Kretschmer taktieren muss. Nicht nur in Riesa. Vergangene Woche demonstrierte in Dresden wieder Pegida, anlässlich eines Besuchs der Kanzlerin. Nachdem ein Demonstrant sie dazu aufgefordert hatte, unterbrach ein Polizeiteam die Dreharbeiten des ZDF vor Ort. Der Fall sorgte für Aufregung, der vor Ort tätige ZDF-Journalist sprach von der sächsischen Polizei als „Exekutive von Pegida“. Kretschmer schlängelte sich hindurch, bezeichnete einerseits die Demonstranten als „Pöbler“, verteidigte aber auch das suspekte Vorgehen der Beamten als „seriöses Auftreten“.

Er begreift sich als Vermittler. „Ich kenne die Sachsen ziemlich gut und ticke, glaube ich, wie die Mehrheit in diesem Land“, sagt er noch in Riesa. Seine Vorgänger Georg Milbradt und Kurt Biedenkopf sind in Westdeutschland geboren. Selbst Tillich galt als Angehöriger der sorbischen Minderheit vielen nicht als „echter“ Sachse. Identität und Herkunft haben für die Bürger im Freistaat eine große Bedeutung. Kretschmer ist Sachse durch und durch. Er gibt sich so, wie sich viele hier gern sehen: nicht rechts, nicht links, sondern pragmatisch, ehrlich, ordnungsliebend, problemsensibel. Kann das reichen? Wenn er über die Sachsen spricht, zeichnet Kretschmer sie so, als wären sie in der Vergangenheit lediglich nicht ernst genug genommen worden, als hätte ihnen keiner zugehört, als hätte hier nur aus Versehen jeder vierte Wahlberechtigte rechts gewählt. Vielleicht unterschätzt er sie damit einmal mehr.

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