Vielleicht nicht alle Jahre, mindestens aber die Jahre seit 1957 wieder zaubern Popkünstler kurz vorm Jahreswechsel ein Weihnachtsalbum hervor. Elvis Presleys Christmas Album war eines der ersten und hält mit 20 Millionen verkauften Einheiten bis heute den Rekord. Seither ist ein saisonaler Hit der feuchte Traum der Plattenfirmen. Weihnachtssongs unterliegen anderen Gesetzen, es winkt die Kanonisierung, wie bei Last Christmas oder All I Want for Christmas is You. Schon der neuzeitliche Poet Sido stellte 2004 im Lichte seines Weihnachtsraps fest: „Ihr könnt mich ruhig hassen, doch alle Jahre wieder klingeln bei mir jetzt die Kassen.“
Warum auch nicht? Will man sich allen Ernstes jedes Jahr aufs Neue einreden, die Gloria in Excelsis Deo würde einem nicht mit jeder langgezogenen Silbe langsam die von Homeoffice und Kinderbetreuung ohnehin flachliegenden Nerven zersägen? Will man so tun, als würde Stille Nacht in einem Weihnachtsjahr mit reduzierten oder gar keinen Kontakten nicht irgendwie passiv-aggressiv wirken? Will man leugnen, dass man dieses Jahr jeden Sternsänger mit seinen schamlos in die Welt geblökten Aerosolen nicht sofort von der Türschwelle jagen möchte?
Nein, dieses Jahr sind die Produkte der Musikindustrie nötig! Wir möchten uns auf die Illusion eines freudvollen Daseins inmitten des mörderischen Chaos für ein paar Takte einlassen, und dafür brauchen wir den Kitsch, der wie süße Glasur die trockene Masse 2020 zumindest oberflächlich einhegt.
Leider schafft es der Markt derzeit, diese ohnehin niedrigen Ansprüche zu unterbieten: Zu den prominentesten Weihnachtspop-Veröffentlichungen 2020 zählen unter anderem A Volks-Rock’n’Roll-Christmas von Andreas Gabalier – bereits konzeptionell eine Perversion, denn Gabalier presst im westlichen Raum weitgehend universell gekannte Songs in ein regionales Korsett und schimpft diese vorverdaute Hausmannskost „Volksmusik“. Darüber hinaus versucht die Industrie mit Alben von Thomas Anders und Florian Silbereisen, Annett Louisan, Meghan Trainor, Dolly Parton und der Kelly Family offenbar so zu tun, als sei es irgendein Jahr um 2000 herum, gering steigende Renten das größte politische Problem und ansonsten alles in Ordnung. Immerhin: Einige Veröffentlichungen taugen dazu, 2020 restlos vom Glauben abzufallen, denn ein gütiger Gott hätte Platten wie Kitschmas (Louisan) ganz sicher nicht zugelassen.
Allein der kanadische Pop-Pianist Chilly Gonzales scheint verstanden zu haben, in welchem Zeichen das Fest diesjährig steht. Für A Very Chilly Christmas interpretierte er zahlreiche Weihnachtsklassiker neu und versteht sich dabei wie gewohnt als Dienstleister des Publikums anstatt als „Onanist“ (so bezeichnet er jene, die behaupten, maßgeblich „für sich selbst“ zu spielen). Manche Ideen bleiben dadurch zwar auf Klavierschule-Niveau – etwa die stimmige, aber simple Transposition von Stille Nacht von Dur zu Moll –, andere wiederum erheben recht primitive Popsongs auf ein musikalisches Podest, auf dem sie erstaunlich stabil stehen. So erweitert Gonzales Wham!s Last Christmas um einen ganzen Geschenkesack voller Intervalle und macht den gnadenlos überspielten Song damit interessanter, als er je war, ohne ihn zu Tode zu durchdenken.
Viele der Kompositionen, etwa die nicht instrumentalen mit Pulp-Sänger Jarvis Cocker und Leslie Feist sind kurzweilig, nehmen sich obendrein nicht zu ernst. Und was, wenn nicht genau das, braucht es an einem Weihnachten, das in seiner festlichen Dimension ohnehin kaum einer ernst nehmen kann?
Info
A Very Chilly Christmas Chilly Gonzales Gentle Threat 2020
Kommentare 3
Für »Freitag«-Leser(innen) empfehle ich natürlich meine »Mashup«-Reihe – zum Jahresausklang mit doppelter Beschallung im Wochentakt ;-).
Das hier behandelte Metier wird 2020 zwar nicht mehr abgedeckt. Allerdings steht Anfang des nächsten eine Folge ins Haus mit verschärfter Wohlfühl-Musik aus der Blue-Eyed-Soul-Ecke. Ansonsten denke ich, dass »Jingle Bells« & Co. nur mit rot-weißen Weihnachtsmützen und dem restlichen Brimborium drumrum richtig Spaß machen. Für die harten Corona-Zeiten, die aktuell anstehen, empfehle ich eher den respektive die da.
den respektive die da natürlich.
Ja, Chilly Gonzales ist ein guter Jazzer. Er tut das einzig richtige, was Jazzer mit verbrauchtem Material machen, er neutralisiert den Kitsch und holt einen brauchbaren Kern hervor. Das hat er in Stille Nacht nicht gut genug gemacht, denn es reicht nicht, Durparallelen in Mollparallelen zu transponieren, aber immerhin, es ist schon etwas verbessert. Ich habe mal eine überzeugende Bearbeitung von Happy Birthday gehört, die wirklich entkitscht war. Das kann man in dem, was bei youtube zu finden ist, erahnen. Das Problem von Gonzales, das ein Problem vieler, wenn nicht der meisten Jazzer ist, ist ein autogenes Kitschmoment, Gonzales neigt selbst zum Einsatz übersteigerter Mittel, zu zu vielen Noten/Tönen.
Myriaden von Fliegen können nicht irren. Myriaden von Menschen auch nicht, wenn sie nach Kitsch verlangen. Es liegt an der Vernunft, ob das Bedürfnis nach Einfachheit so entwickelt werden kann, daß man darin baden kann, ohne daß es peinlich ist. Siehe: Eisler gegen die Dummheit in der Musik.