„Geschlecht ist real“

Interview Streitbar war die Feministin Suzanne Moore oft. Nach einer Kolumne über Transgender kam es zum Eklat
Ausgabe 50/2020

Suzanne Moore ist so was wie die britische Alice Schwarzer. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie und bezeichnet sich als Anarchistin. Seit den 1990er Jahren schrieb sie mit Unterbrechungen für The Guardian, mit dem auch der Freitag kooperiert. Nachdem bei der Zeitung ein offener Brief zirkulierte, den auch führende Politiker*innen von Labour-Partei und Grünen unterzeichnet hatten, verließ sie den Guardian auf eigenen Wunsch. Ausschlaggebend war eine Kolumne über Transgender und Frauenrechte.

der Freitag: Frau Moore, Sie waren jahrelang Kolumnistin bei der britischen Zeitung „The Guardian“, mit dem Schwerpunkt Feminismus und Frauenpolitik. Im März schrieben Sie eine Kolumne, die für viel Aufregung sorgte. Es folgte ein offener Brief, unterschrieben von Mitarbeitern der Zeitung und von Politikern der britischen Linken und Grünen, der ihre Kolumne aufgriff. Nun haben Sie den Guardian aus eigenen Stücken verlassen. Können Sie mir noch einmal erklären, was an der Kolumne viele Menschen verärgert hat?

Suzanne Moore: Ich glaube, es war mein Beharren darauf, dass biologisches Geschlecht real ist und das soziale Geschlecht ein Konstrukt ist. Es gibt eine Bewegung innerhalb des Transaktivismus, die sagt, das biologische Geschlecht sei nicht real. Ich habe außerdem Selina Todd verteidigt, Geschichtsprofessorin in Oxford, weil sie nicht mehr ohne Personenschutz zur Arbeit gehen konnte. Der Grund ist, dass sie an einem Treffen der Gruppe „Woman’s Place UK“ (siehe Kasten unten) teilgenommen hat, die ich niemals als transfeindlich beschreiben würde. Sie möchte lediglich die geschlechtsspezifischen Rechte von Frauen schützen.

Darum geht es im Prinzip. Ich schrieb in der Kolumne, dass es da einen Konflikt gibt, zwischen Frauenrechten und Transrechten, und dass Frauenrechte beachtet werden sollten. Es gibt viele Bereiche, in denen das sichtbar wird, einer davon sind Gefängnisse, ein anderer sind Frauenhäuser, es gibt eine Diskussion über Toiletten – das sind Orte des alltäglichen Lebens, wo man sehen kann, dass das Gesetz Frauen einen Schutzraum zugesteht. Und wenn wir sagen, dass das Gesetz sich ändern kann und dass sich jeder als Frau identifizieren kann, dann fühlen sich einige Frauen – nicht alle, aber einige – damit sehr unwohl, weil sie das Gefühl haben, die ihnen zugestandenen Räume werden so nicht mehr respektiert.

Ich denke nicht, dass irgendetwas davon sonderlich extrem war. Ich wusste, dass viele Leute so denken, auch viele Leute, die ich kenne. Menschen, die ein Leben lang Feminist*innen sind, die sich ein Leben lang für Schwulenrechte einsetzten, viele schwule Männer, viele Aktivist*innen, die sich queeren Kämpfen verschrieben haben – auch die fingen sich ernsthaft an zu fragen, was da los ist. Meine Kolumne kam also nicht aus dem Nichts.

Hat es Sie überrascht, dass über 300 Menschen diesen offenen Brief unterschrieben haben, oder hatten Sie mit Reaktionen gerechnet?

Ich war sehr überrascht von dem Brief. Es gibt eine Menge Dinge, die in der Zeitung stehen, und wir sind uns oft nicht einig, aber so etwas ist mir noch nie passiert und ich hätte auch nicht erwartet, dass so etwas passiert. Der Brief nimmt zwar nicht individuell Bezug auf mich, aber er steht klar im Zusammenhang mit dem Artikel. Eine trans Frau, die schon gekündigt hat, kündigte noch einmal dramatisch in der Redaktionskonferenz. Ich war nicht da, ich gehe da nie hin. Es ging aber wohl darum, dass meine Worte dazu geführt haben, dass sich jemand nicht sicher fühlt. Ich finde das seltsam, ich glaube nicht, dass Worte bewirken können, dass sich jemand nicht sicher fühlt – ich weiß, dass das eine eher altmodische Ansicht ist.

Glauben Sie, der offene Brief bildet ein generelles Meinungsklima ab, oder kommt darin eine Haltung zum Ausdruck, die spezifisch für den „Guardian“ ist?

Das ist wirklich schwer zu beantworten, denn viele Leute, die diesen Brief unterzeichnet haben, arbeiten für den US-Guardian oder den australischen Guardian. Ich weiß nicht, wer diese Leute alle sind, es sind sicherlich nicht alles Journalisten. Das ist auch so eine Sache. Ich weiß nicht, ob redaktionelle Entscheidungen nun Leuten überlassen werden, die digitale Sachen in Australien entwickeln.

Das Klima in Großbritannien ist diesbezüglich schon seit einer Weile recht schwierig. In England war das Klima auf dem Höhepunkt dieser Debatte wirklich toxisch. Während der jüngsten Wahl hat sich die Labour-Partei dafür entschieden, ein Statement zu unterschreiben, in dem steht, dass bestimmte Gruppen als hetzerisch betrachtet werden sollten, unter anderem „Woman’s Place UK“.

Zur Person

Suzanne Moore, Jahrgang 1958, ist eine britische Journalistin. Die Tochter eines Amerikaners und einer Britin aus der Arbeiterklasse erhielt 2019 den Orwell Prize. Sie schrieb unter anderem für Marxism Today, Daily Mail und bis vor kurzem für den Guardian

Wie kam die Labour-Partei dazu, sich so explizit in puncto Transaktivismus zu positionieren? Im Hinblick auf die linke Politik in Deutschland ist das vergleichsweise ungewöhnlich.

Ich stimme Ihnen zu, das ist sehr ungewöhnlich. Ich kann Ihnen nur meine Interpretation anbieten, dass es ein Verlangen danach gibt, allen anderen gegenüber moralisch überlegen zu sein. Teile der Linken haben sich auf dieses Trans-Thema als eine Art sittlichen Lackmustest eingeschossen. Es gibt nur eine Art, darüber zu denken, und wenn du nicht so darüber denkst, solltest du nicht in der Labour-Partei sein. Sie wollen es zu einer Sache machen, für die man aus der Partei fliegen kann.

Das passierte zu einer Zeit, in der die Partei eindeutig im Begriff war, eine Wahl zu verlieren, und im Zuge dessen massiv ihren traditionellen Rückhalt bei der Arbeiterklasse verlor. Es ist ja nicht so, dass Menschen in der Arbeiterklasse dumm sind oder sich nicht für bestimmte Dinge interessieren, aber Transphobie ist einfach nicht das Thema Nummer eins für die Menschen. Für einen kleinen Prozentsatz ist das sicher anders. Die meisten von uns, und ich zähle mich da dazu, glauben voll und ganz daran, dass Erwachsenen eine Geschlechtsangleichung erlaubt sein sollte und sie jede Betreuung und Behandlung bekommen sollen, die sie brauchen. Und dass sie nicht diskriminiert werden sollten, da bin ich ganz dafür.

Aber viele Frauen und Feminist*innen sagen auch: Moment, was passiert, wenn Angleichungen auch bei Kindern ab 13 oder 14 durchgeführt werden? Was passiert, wenn Sexualstraftäter im Gefängnis eine Angleichung machen lassen und dann in ein Frauengefängnis überführt werden möchten? Bricht man es auf diese Fragen herunter, verliert man seine Ideologie. Aber es ist zu einer Art sittlichem Lackmustest geworden. Du wirst automatisch als „transfeindlich“ abgestempelt oder, wenn du eine Frau bist, „TERF“ genannt. Kennen Sie den Begriff?

Transexkludierende, radikale Feministin – ja, ich kenne den Begriff.

Ein bisschen glaube ich, dass Labour sich dafür entschieden hat, diese kleinen ideologischen Kämpfe zu führen, weil sie im Begriff waren, den großen zu verlieren. Für mich ist das verwandt mit der Debatte um Antisemitismus in der Labour-Partei. Dieser Streit hätte schon vor ein paar Jahren einfach beigelegt werden können. Aber sie entschieden sich dafür, so zu tun, als würde das Problem nicht existieren. Sie entschieden sich dafür, so zu tun, als sei die Sache einfach, während ich glaube, dass fast jeder sagen würde, dass sie auf viele Arten und Weisen kompliziert ist.

Einige dieser Dinge werden mit einem Generationsunterschied erklärt. In Teilen glaube ich, das stimmt. Andere Teile der Debatte werden meiner Meinung nach von sozialen Medien oder den Debatten in den USA und Europa beeinflusst. Bei uns heißt es ständig: Ihr britischen Feministinnen, ihr seid die einzigen mit diesem Problem. Ich glaube, das ist nicht im Ansatz der Fall.

Auf den Generationsunterschied wollte ich auch noch zu sprechen kommen, jetzt haben Sie das schon ein wenig beantwortet. Aber mich interessiert noch: Glauben Sie, dass da irgendeine Art von Versöhnung möglich ist?

Ich glaube schon. Andererseits: Ich lebe nicht nur in der Welt meiner Generation. Ich habe drei Töchter. Ich beobachte, dass wir bei bestimmten Sachen mal einig, mal uneinig sind. Seit diesem Schauspiel um mich, das ich gar nicht fassen konnte – ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit jemand in Deutschland über meine Kündigung sprechen würde –, hatte ich viel Kontakt zu anderen Menschen, Frauen und Männern und trans Personen, einer jüngeren Generation.

Was haben Sie aus diesen Gesprächen mitgenommen?

Das Problem für viele junge Menschen ist: Wie geht man mit dem Nonkonformen um, ohne dass man sich notwendigerweise als „trans“ bezeichnet? Ich unterstütze diese Vorstellung, dass man nicht in ein Geschlecht reinpasst, voll und ganz. Was ich nicht unterstütze, ist dieser Drang zur medizinischen Lösung. Ich glaube nicht, dass das für junge Menschen eine Antwort ist. Sobald Menschen 18 Jahre alt sind, haben sie die Wahl, sie sollten nur über die langfristigen Effekte informiert sein. Ich hatte so viel Kontakt zu Transmenschen in den USA, und die sind glücklich mit dem, was sie getan haben. Aber sie sprechen auch sehr viel offener darüber, wie schwierig es physisch und psychisch für sie war. Lasst uns doch eine Debatte darüber haben, anstatt zu sagen: Du bist ein schlechter Mensch, weil du irgendetwas davon überhaupt infrage gestellt hast.

Ich weiß nicht, wie die Situation in Deutschland ist, aber hier ist es so, dass mehr und mehr Frauen, die sich dafür aussprechen, ihren Arbeitsplatz aufgeben müssen, oder dass man mit ihnen umgeht wie mit J. K. Rowling, dass man sagt, sie spielen keine Rolle mehr. Wenn Männer sich dafür aussprechen, werden sie dafür einigermaßen respektiert und als mutig angesehen.

Es gibt diese Debatte hier, aber ich glaube, sie wird noch nicht derart mit harten Bandagen geführt wie in anderen Ländern.

In Schottland macht man jetzt das gleiche durch, es gibt dort auch einen Gender Recognition Act (äquivalent zum Transsexuellengesetz in Deutschland, Anm. d. Interviewers) und es treibt die linksliberale Schottische Nationalpartei SNP auseinander. In Irland gibt es auch so eine Spaltung. Die Vorstellung, dass es nur um ein paar britische Frauen geht, die schreckliche intolerante Menschen sind, das ist einfach nicht der Fall. Ich glaube, wir haben eine bestimmte Form des Feminismus in England, der einer recht radikalen Denkrichtung entspringt, und das musste jetzt wieder hervorkommen. Tatsächlich kommt mir die Transdebatte wie ein Teil einer Bewegung gegen den Feminismus vor.

Im Feminismus ging es doch schon immer auch darum, wer entscheidet, was männlich und was weiblich ist und was nicht. Das ist doch keine neue Frage, sondern wird seit den Sechzigerjahren diskutiert. Warum ist das jetzt so ein angespanntes Thema?

Die Definitionen von weiblich und männlich, die Frage ob wir so geboren wurden oder ob wir uns verändern, ob wir uns individuell verändern oder ob wir die Gesellschaft verändern – das sind Fragen, die sich Feministinnen über viele Jahre hinweg gestellt haben, natürlich. Wenn Leute nun sagen: Transrechte sind Menschenrechte, dann stimme ich dem vollkommen zu. Aber Frauen sind auch Menschen. Und Frauenrechte und Kinderrechte sind Menschenrechte. Es geht darum, wie wir ein Gleichgewicht schaffen können. Der Verbindung zwischen der weiblichen Biologie und der Unterdrückung ist das, was mich in die Debatte hineingezogen hat. Ich habe keine Vorurteile gegenüber Transmenschen, ich will Frauen und Mädchen vor männlicher Unterdrückung schützen. Und in Teilen des Transaktivismus erkenne ich eine Weigerung anzuerkennen, dass unsere Unterdrückung mit unseren Körpern verknüpft ist. Deswegen bin ich die böse Hexe.

Und es ist sehr verstörend, manche dieser Geschichten zu hören, über Keira Bell zum Beispiel, Sie werden davon sicher gehört haben. Sie fühlte sich, wie so viele junge Frauen, sehr unwohl in ihrem Körper, und dann präsentierte man ihr diese Lösung, dass sie die Pubertät mit Medikamenten aufhalten kann, Testosteron nimmt und schließlich eine Mastektomie durchführen lässt. Das hat sie gemacht, nun bereut sie es. Ich glaube, dieser Weg ist der richtige für manche Menschen, und ich respektiere das. Aber diese Frau hat die Therapie mit 16 angefangen und ist nun 23, kann keine Kinder mehr bekommen und wünscht sich, dass sie andere Formen der Unterstützung bekommen hätte. Sie sagt: Es war nie was verkehrt mit meinem Körper.

Natürlich glaube ich, dass die Therapeuten und Ärzte versuchen, das Richtige zu tun. Aber wir als Gesellschaft müssen unsere Kinder schützen. Und für mich ist das eine Frage des Schutzes. Unter 16 kann man so etwas nicht anfangen. Es ist sehr schwer, mit 13, 14 oder 15 einzuschätzen, wie es einmal sein wird, in einem männlichen oder weiblichen Körper zu leben.

Wie geht es bei Ihnen weiter?

Ich schreibe erst einmal für mich selbst, mir gefällt Substack, da kann man meinen Newsletter abonnieren. Ich werde auch weiter arbeiten, aber ich verrate Ihnen nicht, wo. Abgesehen von dem Drama ist es befreiend, den Guardian verlassen zu haben.

Was ist Woman’s Place?

Woman’s Place ist eine britische Organisation, die sich im Jahr 2017 im Zuge einiger Gesetzesvorschläge zur Novellierung des Gender Recognition Act, dem britischen Äquivalent zum deutschen Transsexuellengesetz, gegründet hat. Die damalige Gleichstellungsbeauftragte, Justine Greening, schlug vor, das Prinzip der Selbstidentifikation in das Gesetz einfließen zu lassen. Transpersonen sollten folglich in dem Geschlecht anerkannt werden, mit dem sie sich identifizieren – ohne, dass dafür die Diagnose Geschlechtsdysphorie oder ein sonstiger medizinischer Eingriff nötig wäre. Damit wäre das britische Gesetz auf einer Linie mit zahlreichen anderen europäischen Gesetzgebungen zur Transgender-Frage gewesen, die medizinische Bedingungen für die Anerkennung bereits getilgt haben.

Woman’s Place stellte in Bezug auf die geplante Reform fünf Forderungen auf. Ein Fokus lag auf der Beibehaltung von Räumen, die nur Frauen zugänglich sind. Unter anderem forderte die Organisation die Politik auch dazu auf, praktische Konsequenzen aus der Novellierung zu präzisieren, etwa die Art und Weise, wie nach dem Prinzip der Selbstidentifikation künftig Statistiken erhoben werden sollen, die vorher stark auf der Einteilung in Mann und Frau basierten – wie die Geschlechtsungleichheit bei den Einkommen, der Gender Pay Gap.

Die Gesetzesreform fand letztlich nicht statt. Die britische „Equality and Human Rights Commission“ nannte das eine „verpasste Chance“.

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