Holt sie hier raus

Kunst Am New Yorker Times Square kämpft Pipilotti Rist Nacht für Nacht gegen eine gläserne Wand. Passanten wundern sich, wo die erlösende Markenbotschaft bleibt
Ausgabe 03/2017

Pipilotti Rist weiß, wie sie sich Zugang verschafft. Als sie in den 80er Jahren Audiovisuelle Kommunikation studierte, tat sie das nach eigenen Angaben primär, um die professionelle Technik der Universität Basel nutzen zu können. Ihr Videokunstdebüt I’m Not the Girl Who Misses Much brachte ihr wenig später auf einem Filmfestival einige Aufmerksamkeit ein. Später sagte sie, sie habe damals gar nicht vorgehabt, Künstlerin zu werden, sie habe nur gratis das Festival besuchen wollen. Inzwischen ist die 54-Jährige längt international bekannt, sie braucht keine Ausreden mehr, um irgendwo reinzukommen. Heute flackert eines ihrer Videos über den Times Square in New York – und auf dem will sie raus.

Jede Januarnacht um 23 Uhr 57 läuft hier, am übervollsten Ort dieser übervollen Stadt, Pipilotti Rists Film Open My Glade (Flatten) aus dem Jahr 2000, für drei Minuten bis zum neuen Tag. Das Video zeigt die Künstlerin, wie sie ihr Gesicht an die „vierte Wand“ zum Zuschauer hin presst, ihr Make-up hinterlässt auf dem Glas und auf ihren Wangen bunte Schlieren. Es drängt sich der unangenehme Eindruck auf, einer animalischen Gefangenen zuzuschauen. Eine Songzeile der Smashing Pumpkins fällt einem ein: „Despite all my rage I am still just a rat in a cage.“

Auf 62 der über 100 Reklametafeln ist Rist für kurze Zeit überpräsent am Times Square, jenem Moloch der Reizüberflutung, den die Einheimischen versuchen zu meiden wie die Berliner den Alexanderplatz. In der Reihe Midnight Moment (die nach eigenen Angaben größte und längste Langzeitausstellung der Welt) laufen hier seit 2012 jeweils für einen Monat kurz vor Mitternacht Videos bekannter Künstler. Tracey Emin brachte unter dem Titel I Promise to Love You Liebesgrüße in Neonschrift unters nächtliche Volk, Yoko Ono ließ 2012 die Aufforderung „Imagine Peace“ in 24 Sprachen vor dem Hintergrund eines strahlend blauen Himmels aufleuchten. Im August 2014 zeigten die elektronischen Leinwände den Kurzfilm A Logo for America von Alfredo Jaar. Der chilenische Künstler ließ die US-Flagge und den Umriss der 50 Bundesstaaten aufleuchten, dazu die Slogans „This is not America’s flag“ und „This is not America“. Zwei Kontinente, Nord und Süd, lautet die Message, sind „Amerika“ – nicht der Staatenbund der Stars and Stripes. Trotz des prominenten Orts scheint diese Message nicht alle New Yorker erreicht zu haben.

Gähnen und Milch schlürfen

Es geht aber auch unpolitisch: Sebastian Errazuriz gähnte Nacht für Nacht drei Minuten lang von der Leinwand, um die Stadt, die niemals schläft, damit anzustecken, und Pipilotti Rists Landsmänner Fischli & Weiss ließen vergangenes Jahr im Januar auf den 62 Tafeln einfach nur eine Katze Milch schlürfen. Peter Fischli sagte über sein Video, es sei ja ohnehin nicht möglich, etwas zu machen, das spektakulärer sei als der Times Square. Das unspektakuläre Video sei daher ein logischer Schritt.

Pipilotti Rist setzt von jeher feministische Akzente, die lange nachwirken. Ihr Film Ever Is Over All von 1997, in dem eine junge Frau fröhlich Autoscheiben mit einer Blume zertrümmert, wurde 2016 von Beyoncé zitiert. Im Musikvideo zum Album Lemonade stellte die Sängerin die Szene nach und nahm statt der Pflanze einen Baseballschläger.

Das New Yorker New Museum, das seit Oktober und noch bis 15. Januar die Pipilotti-Rist-Werkschau Pixel Forest zeigt, schreibt zu Open My Glade (Flatten), es „überschreite“ die medialen Erwartungen an die Frau und stelle ihre „unsichtbaren Begrenzungen“ infrage. Dem medienaffinen Publikum des New Museum wird das unmittelbar einleuchten. Aber begreift das jemand in drei Minuten um Mitternacht im kalten Januar am Times Square? An Publikum mangelt es nachts immerhin nicht. Touristen kommen gern im Dunkeln, weil die Bestrahlung dann besonders wirkt. Der Platz ist dann taghell, ein dystopischer Überfluss an Licht.

Sonst läuft hier der Konsumfetisch durcheinander, asynchron und endlos: Dessous, Süßigkeiten, Alkohol. Alles ist auf Hochglanz poliert. Und dann: eine Frau – stumm, aber bildsprachlich laut – mit verschmierter Schminke im Befreiungskampf aus dem Klammergriff der Kameralinse. Kein computeroptimiertes Model, keine überzeichnete Animation – ein echter Mensch in einem echten Körper, der sich unschön verbiegt, wenn man ihn drückt. Ungläubig schauen einige von denen auf das Video, die hier sonst erbarmungslos mit Kauf-mich-Imperativen geblendet werden, bis die Netzhaut brennt. Ehe sie es erfassen können, sind die drei Minuten um.

Wer nicht weiß, was er da eben gesehen hat, wartet auf die erlösende, erklärende Markenbotschaft am Ende. Sie kommt nicht. Ein kurzer Abspann, dann gehen alle Tafeln wieder zur Tagesordnung über. Nur wenige Passanten schneiden die Veränderung im Lichtgewitter überhaupt mit, einige lachen oder machen Fotos, viele starren einfach weiter ausdruckslos auf das von Neuem beginnende Reklamespektakel. Pipilotti Rist scheint wie immer am richtigen Ort zu sein.

Konstantin Nowotny studiert an der New Yorker New School Soziologie

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