Leben retten – für 1,40 die Stunde

Ausbeutung Angehende Psychotherapeuten leisten dringend benötigte Arbeit. Bezahlt werden sie gering. Oder gar nicht
Ausgabe 07/2019
Herbst 2018: Psychotherapeuten in Ausbildung besuchen den Aufsichtsrat der Charité in Berlin
Herbst 2018: Psychotherapeuten in Ausbildung besuchen den Aufsichtsrat der Charité in Berlin

Foto: Christian Ditsch/Imago

Die Depression ist eine tückische Krankheit, denn sie flüstert. Ein gebrochenes Handgelenk tut das nicht, eine Grippe auch nicht. Die Depression aber säuselt erbarmungslose Unwahrheiten: „Du bist wertlos“, zum Beispiel. Oder: „Du bist für jeden eine Belastung.“

Wen das unvorbereitet trifft, der will ihr glauben. Umso bemerkenswerter ist es, wenn Depressive die Kraft aufbringen, sich therapeutische Hilfe zu holen. Auf den Therapeuten lastet dann enorme Verantwortung. Sie müssen einfühlsam sein, verständnisvoll, geduldig. Dafür lernen sie viel, über den Aufbau des Gehirns und den Aufbau eines Gesprächs, über richtige und falsche Fragen, über Medikamente und Suchtmittel.

Dafür sind sie gleich zweifach qualifiziert: „Psychologischer Psychotherapeut“ heißt die Berufsbezeichnung. Therapeuten haben sowohl ein mehrjähriges Psychologiestudium absolviert als auch eine Therapeutenausbildung abgeschlossen. Bis zur Abschlussprüfung dauert es bestenfalls ganze acht Jahre. Bestenfalls. Im Schnitt brauchen die angehenden Therapeutinnen und Therapeuten länger, insbesondere dann, wenn sie während ihrer Ausbildung arbeiten gehen müssen.

Das müssen sie sehr häufig, denn Psychotherapeut werden ist teuer. An einem Kooperationsinstitut der Berliner Charité kostet eine dreijährige Ausbildung beispielsweise 20.000 Euro. Woanders kann sie bis zu 70.000 Euro kosten. Viele Psychotherapeuten in Ausbildung verschulden sich. Zu der finanziellen Belastung kommt ein enormer Aufwand. Ab einem gewissen Punkt in der Ausbildung, der sogenannten praktischen Tätigkeit, übernehmen die Auszubildenden Patienten – neben Seminaren, Besprechungen und Fortbildungen. 50 bis 60 Wochenarbeitsstunden sind keine Seltenheit.

Tags Therapie, abends Minijob

Hohe Hürden für einen Beruf, der jedes Jahr dringender gebraucht wird. Psychische Krankheiten sind laut Krankenkassen mittlerweile der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen. Die Zahl vergrößert sich, weil das Stigma abnimmt, weil Menschen sich häufiger trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Laut Bundespsychotherapeutenkammer fragen trotzdem erst 20 Prozent der psychisch kranken Menschen eine Therapie an. Es gibt auch Hinweise darauf, dass schlicht mehr Menschen psychisch erkranken. Die WHO schätzt, dass in Deutschland allein vier Millionen Menschen depressiv sind.

Dass die Psychotherapeutenausbildung trotz der Strapazen ungebrochen beliebt ist, ist fast verwunderlich. Mit einem Diplom oder einem Master in Psychologie bekämen die Studenten auch woanders einen gut bezahlten Job, zum Beispiel als Wirtschaftspsychologe.

Die Kliniken sollten es also wertschätzen, dass sich angesichts des hohen Bedarfs so viele junge Menschen diesen Belastungen aussetzen, könnte man meinen. Die Wertschätzung lässt sich beziffern. Sie lautet: 1,40 Euro die Stunde. Das ist der faktische Stundenlohn für viele Psychotherapeuten in Ausbildung. Woanders sieht es oft nicht viel besser aus. Eine Pflicht zur Vergütung sieht das Gesetz nicht vor. Manche Kliniken zahlen überhaupt nichts.

Wie ist das möglich? „Man verdient 150 Euro im Monat, 400 Euro gehen für die Ausbildungskosten drauf“, sagt Anne. Sie macht eine Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin und leistet ihre praktische Tätigkeit am Berliner Vivantes-Klinikum. Wegen der unhaltbaren Zustände hat sie sich mit anderen „PiA“, wie sich die Psychotherapeuten in Ausbildung abkürzen, zum Protest zusammengeschlossen. Ein Großteil von ihnen hat neben dem hohen Wochenarbeitspensum noch einen oder mehrere Nebenjobs. Hinzu kommen für Anne und die anderen Protestierenden jetzt noch: Orga-Treffen, Demos und Termine mit Pressevertretern. Die PiA suchen den Kontakt zur Öffentlichkeit, um auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen.

Lisa, die eine tiefenpsychologische Ausbildung macht und zur Zeit an der Charité arbeitet, ist ebenfalls in der Protestgruppe organisiert. Sie geht neben ihrer Ausbildung babysitten. In einigen Fällen, so berichtet sie, beantragen die Auszubildenden sogar Arbeitslosengeld – mit Vollzeitpensum und abgeschlossenem Studium. Der geringe faktische Verdienst lässt das zu. Ist das zu rechtfertigen?

„Das Argument, was dann vorgebracht wird, ist: Ihr seid ja in der Ausbildung, ihr werdet ja betreut“, so Dilara, die auch Verhaltenstherapeutin werden möchte und kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung steht. Mit „Betreuung“ ist die sogenannte Supervision gemeint. Dabei sollen die Auszubildenden von einem erfahrenen Therapeuten angeleitet werden. So die Idealvorstellung. „Jeder von uns hat sechs bis neun Patienten. Man kann sich vorstellen, dass wir in einer Gruppensitzung von anderthalb Stunden nicht sehr weit kommen“, sagt Anne.

Bedingt einsatzbereit

Bedarf Trotz der hohen Kosten und der langen Ausbildungsdauer absolvieren in Deutschland jährlich über 2.000 Menschen eine psychotherapeutische Ausbildung. Bei Abschluss sind sie durchschnittlich 34 Jahre alt. Laut Informationen des Berufsverbands deutscher Psychologinnen und Psychologen stieg die Anzahl der in Deutschland tätigen Psychotherapeuten in den vergangenen Jahren um 20 Prozent auf über 35.000.

Die Therapeuten sind da, allein der Zugang zur Therapie gestaltet sich schwierig. Aus einer Kleinen Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion vom Januar geht hervor, dass die Wartezeit für eine Therapie im Schnitt bis zu fünf Monate beträgt – im ländlichen Raum sogar noch länger. Eine Richtlinie aus dem Jahr 2017 sollte die Wartezeit auf vier Wochen reduzieren. Das Problem: Es mangelt weniger an Therapeuten denn an Kassensitzen. Eine Kostenübernahme für Therapien in Privatpraxen ist kompliziert und langwierig. Wenn die PiA nach Jahren der Ausbildung endlich einsatzbereit sind, treffen sie auf die nächste Hürde. Das Nachsehen haben die Patienten, von denen viele dringend Hilfe benötigen

Die Therapien übernehmen die drei angehenden Therapeutinnen also de facto eigenverantwortlich. Ohne die Auszubildenden könnte der Klinikbetrieb überhaupt nicht funktionieren, da sind sie sich sicher. Der steigende Bedarf an Psychotherapie wird zu einem nicht unerheblichen Teil durch Auszubildende wie Lisa, Anne und Dilara gedeckt. Auszubildende wie sie arbeiten wie Festangestellte. Es gilt als offenes Geheimnis, dass PiA zum Beispiel Arztbriefe schreiben. „Die bewegen sich zum Teil in einem Bereich, der nicht mal mehr grau ist“, meint Anne.

Den Protestierenden geht es ums Geld. Aber nicht nur. Eine Demonstration, bei der etwa 100 Auszubildende im November vom Charité-Klinikum mit Trillerpfeifen vor das Ministerium für Gesundheit zogen, trug das Motto „Wir brennen aus“. Die PiA machen deutlich, dass es unverantwortlich ist, sie trotz abgeschlossenen Studiums mit Niedrigstlöhnen unter starken Druck zu setzen und in Nebenjobs zu zwingen. Sie, die ruhig und konzentriert sein müssen, wenn sie Verantwortung für teils schwer kranke Menschen übernehmen.

Fortschritte machen die PiA trotz Unterstützung von Verdi aber nur langsam. Die Politik und die Kliniken sitzen den Protest oft aus. Irgendwann sind die PiA ja fertig. Dann dürfen sie einer Kassenzulassung hinterherrennen und sich um die Rückzahlung ihrer Schulden Gedanken machen.

Spar-Spahn spielt auf Zeit

Seit Kurzem tut sich aber etwas. Ein Referentenentwurf zur Reform der Psychotherapeutenausbildung liegt vor, aus Jens Spahns Gesundheitsministerium. Ab 2020 soll es demnach einen Studiengang „Psychotherapie“ geben. Angehende Therapeuten wären dann nach dem Studium wie Ärzte approbiert und könnten dementsprechend abgerechnet werden. Für die aktuell beschäftigten Psychotherapeutinnen in Ausbildung verbessert sich damit aber nichts. Bis 2032 ist im Entwurf eine Übergangszeit definiert, in der das alte Modell ohne Vergütungspflicht sowie gänzlich ungeregelten Arbeitsbedingungen weiterhin gültig ist. Wer aktuell Psychologie studiert oder die Ausbildung macht, geht leer aus.

Eine Reform ist seit Jahren im Gespräch. Spahn erkauft sie sich günstig, indem er ganze Jahrgänge angehender Psychotherapeuten unter den Tisch fallen lässt. Die PiA fühlen sich, gelinde gesagt, verraten. Ende Januar demonstrierten die Auszubildenden in Berlin, Hamburg und Köln für angemessene Übergangsregelungen.

Ein Streik wäre zweifellos wirksam. Aber das Ausbildungsverhältnis der PiA gilt nicht als Arbeitsverhältnis. Streikende könnten demnach sofort gekündigt werden. Viele fürchten um ihre Ausbildung, für die sie sich zum Teil hoch verschuldet haben.

Vor Entlassung geschützt wären sie nur mit Gewerkschaftsunterstützung. Bei einem vergleichbaren Fall hat Verdi zum Anfang des Jahres bereits Erfolge erzielt. Zahlreiche medizinische Ausbildungsberufe, unter anderem Ergotherapeuten und Logopäden in kommunalen und Uni-Kliniken, bekommen seit dem 1. Januar 2019 eine tarifliche Vergütung. Für einzelne Auszubildende bedeutete das einen Anstieg von null auf 900 Euro und mehr.

Von solchen Summen können viele PiA derzeit nur träumen. Die Kliniken reden sich oft damit heraus, dass sie gesetzlich nicht zu einer Vergütung verpflichtet sind. „Das ist eine Gesetzeslücke“, sagt Dilara, „bei anderen Klinken sieht man, dass deutlich mehr gezahlt wird. Es scheint also einen Spielraum zu geben.“ In Baden-Württemberg zahlen Kliniken beispielsweise nach Tarifvertrag. Viele Auszubildende nehmen deswegen teils große Pendelstrecken auf sich. An der Charité brüstet man sich hingegen, dass man die geringe „Aufwandsentschädigung“, wie es heißt, schließlich freiwillig zahle.

Dieser Aufwand, der da „entschädigt“ wird, ist eine vollwertige Behandlung. Insbesondere bei der „Volkskrankheit“ Depression gilt eine Psychotherapie als hochwirksam. Im Einzelfall rettet sie Leben. Und: Sie braucht kaum Material und ist damit für die Krankenkassen vergleichsweise günstig. Benötigt werden Fachwissen, Empathie und Geduld. Dass die jungen Psychotherapeuten, während sie all das aufbringen, nicht selten selbst unter existenziellen Nöten leiden, wissen viele Patienten zum Glück nicht. Sie fühlen sich ohnehin oft genug wie eine Belastung.

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