Wir befinden uns im Jahre 2017. Ganz Ostdeutschland ist von der AfD durchsetzt – ganz Ostdeutschland? Nein! Ein von Unbeugsamen bevölkerter Wahlkreis leistet Widerstand. Bei einem Blick auf die Landkarte der gewonnenen Direktmandate wirkt Leipzig tatsächlich wie das beliebte, widerständige Dorf aus „Asterix“. Beinahe der gesamte Osten ist schwarz, am östlichen Rand sogar blau: Im Osterzgebirge, in Bautzen und in Görlitz konnte die AfD ihre ersten Direktmandate holen. Bevor es in Berlin und Potsdam wieder bunter wird, liegt der Osten in blauschwarzer Finsternis. Bis auf eine winzige Enklave: der Wahlkreis Leipzig II, im Süden der Messestadt. Hier gewann zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung vor 27 Jahren ein linker Kandidat: Sören Pellmann, 40 Jahre alt, Grundschullehrer. Wie fühlt sich das an, im Umkreis von etwa 100 Kilometern der einzige gewählte Linke zu sein?
„Das ist ein sehr schönes Gefühl, das gebe ich zu. Weil man allein mit diesem roten Farbtupfer hier im Süden nun zeigen kann: Sachsen ist nicht nur AfD-verseucht und rechtsextrem geworden“, sagt Pellmann stolz. Auf dem Tisch in den Räumen seiner Fraktion im Leipziger Rathaus steht eine Sektflasche, mit Schleife und Glückwunschkarte. So richtig glauben kann der Pädagoge seinen Erfolg noch nicht. Bis zwei Uhr nachts verfolgte er am Wahlsonntag das Kopf-an-Kopf-Rennen bei der Stimmenauszählung. Zwischenzeitlich lag sein Konkurrent, der langjährige CDU-Platzhirsch Thomas Feist, wieder vorn. Dann überholte Pellmann ihn mit einem hauchdünnen Vorsprung von 0,7 Prozent.
Boom und Armut
Gefeiert wurde zunächst nicht: Der Leipziger Volkszeitung sagte er noch in der siegreichen Nacht, er werde am nächsten Morgen um Viertel sechs – für Westdeutsche: Viertel nach fünf – aufstehen und zur Arbeit in seine Schule gehen – das Wahlergebnis sei schließlich noch nicht amtlich. Mittlerweile ist es das, und Pellmann musste sich schweren Herzens von seinen Schülern verabschieden. Traurig seien einige gewesen, aber sie hätten ihn auch beglückwünscht. Bis zur konstituierenden Sitzung des Bundestages, deren spätestmöglicher Termin der 24. Oktober ist, hat Pellmann nun Zeit, sich auf sein Leben als Bundestagsabgeordneter vorzubereiten. Einen vorläufigen Abgeordnetenausweis hat er bereits. Demnächst bekommt er sein Büro in Berlin.
Dahin will er pendeln, um weiterhin im Leipziger Stadtrat Politik machen zu können. Dort ist die Linke zweitstärkste Kraft. Noch immer hat die Partei im Osten eine gewisse Tradition und Stärke. Stück für Stück rückt ihr jedoch die AfD auf den Pelz. Der Wahlkreis II umfasst die urbanen, angesagten, leicht jüngeren Stadtteile Leipzigs: den Süden, das Zentrum und den Westen. Hier wächst die Stadt. Die Immatrikulationen an der Universität werden mehr, die Einwohnerzahl nähert sich der historischen Marke von 600.000. In diesem traditionell eher linken Milieu, zwischen den neuen Clubs und den schicken Cafés, gibt es, wie überall in solchen Regionen, Probleme mit Gentrifizierung und steigenden Mieten. Unter anderem deshalb, meint Pellmann, konnte er hier punkten. Er hat sich für bezahlbaren Wohnraum starkgemacht. Darüber hinaus betonte er immer wieder, dass Leipzig trotz des Booms Armutshauptstadt sei. Dort, wo die Armut am stärksten ist, traf dies auf taube Ohren. Die echten sozialen Brennpunkte liegen nicht im Wahlkreis II. Wo die Einkommen niedrig und die Schulen marode sind, gewann vor allem die AfD.
„Es scheint ein Phänomen zu sein, dass die ehemaligen Hochburgen der Linken bröckeln, weil die Linke hier als Protestpartei wahrgenommen wurde und sich dieser Protest jetzt nach rechts verschoben hat“, sagt Pellmann und verweist auf ähnliche Entwicklungen in Berlin-Hellersdorf oder in Rostock-Lichtenhagen, wo die Linke zwar vor der AfD lag, Letztere aber deutlich zulegen konnte.
„Allen Grund nachzudenken“ habe die Linke, schrieb kürzlich Oskar Lafontaine, da sie von nur elf Prozent der Arbeitslosen gewählt werde, gegenüber 22 Prozent für die AfD. „Da hilft auch kein Verweis auf die urbanen Schichten, zu denen meines Wissens auch Arbeiter und Arbeitslose gehören“, fügte er an. Was sagt Pellmann dazu? „Ich weiß nicht, ob die Wählerinnen und Wähler, die von Hartz IV leben müssen, wissen, dass die AfD genau diese Transferleistungen beschneiden möchte.“ Er sehe das von Lafontaine thematisierte Problem, teile jedoch dessen Ursachenanalyse nicht. Rassisten entgegenzukommen, weil sie sichtbarer werden, sei nicht die richtige Lösung. Pellmann erinnert sich an die ersten Demos des rassistischen „Legida“-Bündnisses vor zwei Jahren – bis zu 10.000 Menschen auf Leipzigs Straßen. Enttäuschte und Besorgte seien da dabei gewesen, sagt er: Menschen, mit denen man reden kann.
Wenige Tage vor der Bundestagswahl lief „Legida“ wieder. Etwa 300 Leute skandierten „AfD“-Rufe, beschützt von Wasserwerfern und Räumpanzern. Einen Steinwurf von den Fraktionsräumen der Linken im Rathaus entfernt trafen sich tausende Leipziger zum Gegenprotest. Pellmann war, wie fast immer, dabei. Die da liefen, die übrig geblieben sind von der Hochphase des Protests, das sei ein „eher rechtsextremer, rassistischer Kern“, sagt er, „und mit denen zu reden, macht überhaupt keinen Sinn.“ Es käme nun, im Hinblick auf den Erfolg der Rechten bei der Bundestagswahl, darauf an, mit Glaubwürdigkeit und Inhalten zu überzeugen – aber nicht um jeden Preis. Dass das möglich ist, hat er selbst gerade bewiesen.
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