Die Große Bibliothek bleibt offline

eBooks Die Textbranche tut sich nach wie vor schwer mit der eigenen Digitalisierung – und der Piraterie
Ausgabe 28/2018
Hey, Alexa! Zeig mir, wo ich den Bestseller von diesem Franzen für umsonst finde
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Collage: der Freitag

Bis heute sind sich Historiker nicht einig, wie Alexandria untergegangen ist. Fakt ist nur: Es soll sie gegeben haben, die legendäre Universalbibliothek der Antike, die beinahe das gesamte Wissen der Alten Welt in Form von Schriftrollen beherbergte, von denen heute keine einzige mehr auffindbar ist.

Was muss das für ein Schatz gewesen sein, der da verloren gegangen ist? Glücklicherweise ist es heute deutlich schwerer, so viel Wissen auf einmal zu vernichten. Alexandria steht wieder, wenngleich weniger physisch. Es ist kein Zufall, dass die Entwickler von Amazon für ihren sprachgesteuerten Assistenten das Codewort „Alexa“ ausgewählt haben, wobei der natürlich nur einer von unendlich vielen Zugängen zu diesem Wissensspeicher ist.

Unsere Universalbibliothek ist das Internet. Allerdings ist vieles darin nicht umsonst. Seit der Antike ist einiges passiert. Mit der Einführung des Buchdrucks wurden Sprache und Informationen zu „transportfähigen Waren“ (Marshall McLuhan). Der Kapitalismus überfiel die Welt und auch Aktivitäten wie Lesen, Schreiben und Wissen mussten irgendwie zu Lohnarbeit werden.

Der Knackpunkt dieser Verwertungslogik: das Urheberrecht. Es kam etwa im 18. Jahrhundert auf. Heute, drei Jahrhunderte später, ist es moderner, aber trotzdem veraltet. Die derzeit gültigen EU-Regelungen stammen aus dem Jahr 2001. Seitdem ist das Internet zum allgegenwärtigen Medium avanciert – und mit ihm ein eher urheberrechtsfeindlicher digitaler Raum, in dem noch immer relativ bedenkenlos geteilt und kopiert werden kann.

Alles für lau

Um das Urheberrecht endlich ans digitale Zeitalter anzupassen, stand vergangene Woche im EU-Parlament ein seit Jahren entwickelter Entwurf zur Debatte. Der Vorschlag wurde in einer knappen Abstimmung vorerst abgelehnt. Damit ist die Reform nicht am Ende, sondern wird zunächst nur vertagt – auf September, nach der Sommerpause des Parlaments.

Vor allem ein Punkt sorgte für viel Kritik: Das reformierte Urheberrecht soll Plattformen wie Facebook und YouTube zur Kasse bitten, wenn diese mit fremden kreativen Inhalten Geld verdienen, indem sie ihre Werbung drum herum platzieren. Um das zu erreichen, verlangt die Reform eine Prüfung sämtlicher Inhalte, bevor ein Nutzer sie hochlädt. Das entsprechende Schlagwort lautet „Uploadfilter“, auch wenn der Begriff im Gesetzesentwurf so nicht vorkommt. Kritiker meinen, diese würden das freie Teilen und Bearbeiten von Musik, Bildern und Text im Netz, wie es seit Jahren feste Kulturpraxis ist, verunmöglichen und schlimmstenfalls sogar die Meinungsfreiheit bedrohen.

Die Befürworter halten das für Hysterie. Peter Kraus vom Cleff, Vizepräsident des europäischen Verlegerverbandes und kaufmännischer Geschäftsführer des Rowohlt-Verlags, meint, die Internetkonzerne hätten eine Desinformationskampagne betrieben: „Viele Abgeordnete sind auf die absichtlich verbreiteten Falschinformationen über vermeintliche Internet-Zensur hereingefallen“, schreibt er auf Nachfrage. Ihm zufolge gehe es nur um eine faire Vergütung, beispielsweise wenn Google in seinem gigantischen News-Aggregat Textschnipsel wie Teaser oder Anrisse nutzt, ohne an dem daraus entstehenden Gewinn Autoren und Verlage zu beteiligen.

Aktuell gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie viele Einnahmen den Verlegern dadurch tatsächlich entgehen. Der maßgebliche Urheberrechtsbruch geschieht ohnehin abseits von Google, Facebook und Co. im Untergrund, in den Schattenbibliotheken der eBook-Piraterie. Im Vergleich zur Film- und Musikwirtschaft, die ihre Konflikte mit der Gratis-Kultur im Netz zunehmend durch legale Streamingdienste wie Spotify und Netflix entschärfen konnte, hat die Textbranche noch große Schwierigkeiten mit der Digitalisierung.

Eine der bekanntesten Schattenbibliotheken heißt Library Genesis. Auf einer spartanisch eingerichteten Website geben die anonymen Macher regelrecht damit an, dass sie derzeit die Grenze von zwei Millionen hochgeladenen Dateien erreicht haben. Überwiegend findet sich hier Wissenschaftsliteratur. Die Schattenbibliothek erklärt in ihrem Manifest, dass sie vor allem Wissen zugänglich machen wolle.

Wenn sie nur bekannt genug ist, gibt es mitunter auch schöngeistige Literatur, sogar in mehreren Sprachen. Jonathan Franzens Erfolgsroman Die Korrekturen ist in der deutschen Erstauflage problemlos zu finden, hochgeladen auf fünf verschiedenen Spiegelservern. Der legale Erwerb im Taschenbuchformat wäre für 12,99 Euro möglich, eine Digitalversion kostet bei verschiedenen Anbietern 10,99 Euro. Bei Library Genesis sind die knapp 800 Seiten 1,9 Megabyte groß und der Download dauert selbst mit einer mäßigen Internetverbindung nur wenige Sekunden.

Das Endprodukt ist kein bloßer Bildscan der Seiten. Moderne Scanner haben eine Texterkennung, die die Buchstaben einzeln herausliest. Dadurch wird das Dokument kleiner und außerdem elektronisch durchsuchbar. So kann man beispielsweise schnell feststellen, dass in den etwa 200.000 Wörtern der Korrekturen das Wort „Urheberrecht“ keine Verwendung findet. Hundertprozentig zuverlässig ist so ein Textscanner allerdings nicht. Die raubkopierte Version der Korrekturen vermerkt zwei Usernamen auf dem Cover: Scanner und Lektor. Buchpiraterie ist aufwendig.

Der Netzjournalist Lars Sobiraj beschäftigt sich seit Jahren mit der illegalen Download-Szene. Er betreibt unter anderem das Portal tarnkappe.info, das über Neuigkeiten aus dem Untergrund informiert. Sobiraj kennt das Netz noch aus Tagen, als es ein Tummelplatz für einige wenige IT-Begeisterte war – und die Szene kaum auf dem Radar der Labels, Verlage, Verleihe und Abmahnanwälte.

„Ich glaube, diese ganze Urheberrechtsreform geht total am Thema vorbei. 95 Prozent der Online-Piraterie finden ja gar nicht auf den legalen Plattformen statt“, sagt er. 2016 gab Sobiraj ein Buch heraus. Es ist die Bestandsaufnahme eines eBook-Piraten mit dem Pseudonym „Spiegelbest“. Dieser dominierte eine Weile lang die deutsche Szene. Bis heute ist sein aufwendig gescanntes Archiv mit über 47.000 eBooks im Umlauf. Laut Sobiraj empfand der Pirat sein Werk als tüchtiges Hobby, aber auch als Rebellion: „Ich hatte den Eindruck, dass er selber aus der Verlagsbranche kam und das ein Versuch der Auflehnung war. Er hat ja auch probiert, den Börsenverein des Deutschen Buchhandels zu erpressen, nach dem Motto: Wenn ihr die Buchflatrate mit legalen Mitteln nicht einführt, dann machen wir das mit illegalen.“

Auf harten Holzstühlen

Mittlerweile gibt es sie, die erste wirklich umfangreiche eBook-Flatrate. Das Angebot von Amazon kostet 9,99 Euro monatlich und umfasst den Zugriff auf 1,7 Millionen Titel und 2.500 Hörbücher. Das ist ein Anfang. Gemessen daran, wie viele Bücher es bereits gibt und wie viele nach wie vor publiziert werden, ist das aber keine große Zahl. Zum Vergleich: Der Gesamtbestand der Deutschen Nationalbibliothek umfasst derzeit etwa 32 Millionen Einheiten, lesbar zum Beispiel mit einer Jahreskarte für 42 Euro.

Die beachtliche Menge an digitalisierten Titeln lässt sich aber nur entweder physisch auf harten Holzstühlen lesen oder digital vor Ort an den Lesesaalrechnern. Das mag für Studierende genügen, eine attraktive Option für den bequemen Durchschnittskonsumenten ist es aber sicherlich nicht.

Sobiraj meint, erschwingliche, hochwertige und legale Angebote wären die einzige effektive Maßnahme gegen den illegalen Markt. In der Musik- und Filmbranche zeichnet sich ab, dass er recht haben könnte. Der Bundesverband Musikindustrie gab für das Jahr 2017 an, dass knapp die Hälfte aller Umsätze mittlerweile mit digitalen Produkten erzielt wird, ein Drittel allein mit dem Streaming. In der Fernsehbranche verlaufen die Entwicklungen ähnlich.

Der Buchmarkt ist vergleichsweise träge. Zusammen mit dem Marktforschungsinstitut GfK hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgefunden, dass der Umsatzanteil, der auf eBooks fällt, bei etwas mehr als fünf Prozent liegt. Gleichzeitig würden eBook-Käufer vor allem günstigere Titel bevorzugen. Wie das Beispiel Jonathan Franzen zeigt, sind aktuelle Titel im Digitalformat meist ähnlich teuer wie die gedruckte Version. Offenbar ist vielen vor diesem Hintergrund das gedruckte Buch dann doch lieber. Das legale und digitale Alexandria, es lässt noch auf sich warten.

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