Märtyrer-Clips, Comedy und Kerzen-Kitsch

"100 Sekunden"-Rezension Christopher Rüpings neue Arbeit an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin.

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Auf einem verschlungenen Weg geht es in den Backstage-Bereich der Kammerspiele des Deutschen Theaters, wo recht unbequeme, kunterbunt zusammengewürfelte Stühle bereitstehen, wie man sie eher auf dem Flohmarkt als auf der Theaterbühne vermuten würde. Die vier Schauspieler (Michael Goldberg, Camill Jammal, Katharina Matz und Wiebke Mollenhauer) haben sich unter das Publikum gemischt. Abwechselnd erheben sie sich und stellen das Schicksal eines Menschen vor, der für seine Überzeugung in den Tod ging.

Die Uhr tickt unerbittlich: es bleiben genau 100 Sekunden. Eine Stimme aus dem Off zählt die letzten Sekunden herunter und ruft dann mit schneidender Stimme: „Stopppp!“ Provozierend stehen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten völlig unvermittelt nebeneinander: vom Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennnung ein Auslöser der Arabellion war, geht es zum Hungerstreik des RAF-Mitglieds Holger Meins. Der Chef-Archäologe von Palmyra, der im August vom IS geköpft wurde, steht neben Magda Goebbels, die ihren Kindern Gift gab, neben Jeanne d´Arc, die Katharina Matz mit viel zu großem, verrutschendem Helm spielt, neben dem biblischen Abraham, der im Alten Testament Gott seinen Sohn Issak opfern sollte, neben japanischen Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, neben einem Atomwissenschaftler, der sich nach dem Super-Gau von Tschernobyl verstrahlen ließ, und so weiter und so fort.

In diesem Sammelsurium aus Märtyrer-Clips fällt es nicht weiter auf, dass sich auch die Geschichte des sowjetischen Offiziers Stanislaw Petrow, der die Welt am 26. September 1983 vor dem Atomkrieg rettete, dazwischenschmuggelt. Nach 100 Sekunden kommt der Cut und dann gleich die nächste Geschichte, sofern nicht doch wieder der sakral wirkende Klagegesang dazwischen geschoben wird, in dem Wiebke Mollenhauer und Camill Jammal anscheinend Athena beschwören.

Noch etwas haben diese kurzen Szenen gemeinsam: historische Figuren mit der Autorität von Säulenheiligen wie Friedensnobelpreisträger Mahatma Gandhi werden ebenso ironisch gebrochen wie die schon erwähnte Jeanne d Arc mit ihrem schlecht sitzenden Helm. Im Fall von Gandhi lässt sich Jammal einfach nicht davon abbringen, ihn ständig mit Ben Kingsley zu verwechseln, der für seine Gandhi-Darstellung den Oscar gewann.

All die Überzeugungstäter kann man nicht mehr richtig ernst nehmen: „Die Aufklärung hat mit den Göttern und großen Geschichten gehörig aufgeräumt. Doch nicht nur das fortschreitende wissenschaftliche Zeitalter, sondern auch das Ende des großen Systemwettlaufs zwischen Ost und West hat den Himmel der Überzeugungen, der Utopien und Ideologien entleert“, beklagt der Text im Programmheft zu „100 Sekunden (wofür sterben)“, das den Besuchern in die Hand gedrückt wurde.

Das Ende der Utopien mündet in eine schräge Party. Die Wand wird durchgebrochen, Katharina Matz schlüpft in einen Raumfahrer-Anzug, Camill Jammal wirft sich einen Poncho über, setzt sich Insekten-Fühler aus Plastik auf und spielt am Klavier, auf dem sich Wiebke Mollenhauer im Abendkleid räkelt. Von „Live is Life“ bis „Atemlos“ werden Stimmungshits angespielt. Die gute Laune des Ensembles will aber nicht so recht auf das Publikum übergreifen.

Das Publikum wird am Schluss von der Hinterbühne in die Zuschauerränge der Kammerspiele geführt. Auf jedem leeren Platz wird eine Kerze angezündet. Diesen Abend kann dann auch das kitschige Schluss-Bild nicht mehr retten: Christopher Rüpings jüngste Arbeit am Deutschen Theater verliert sich in Ironie und Comedy.

Der Text ist zuerst hier erschienen: http://kulturblog.e-politik.de

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