Anarchie!

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Gesetze, Reglementierungen, Zentralisationen, Zwangsgebilde sind den Menschen der Gegenwart so selbstverständliche Faktoren der gesellschaftlichen Organisation, dass ihnen jedes Bekenntnis zur Dezentralisation, zur Staats- und Herrschaftslosigkeit närrisch oder verbrecherisch vorkommt. Anarchie, das Wort der Freiwilligkeit, meinen sie, sei Verwirrung. Polizei aber scheint ihnen Ordnung, Kapitalismus Ausgleich, Justiz Gerechtigkeit. Den Begriff Sozialismus haben sie in den Bestand der Dinge eingereiht und nehmen ihn als Flagge einer demokratischen Reformpartei.
Nur an den kleinen Symptomen der gesellschaftlichen Wirrnis wird Rednerei und Kritik geübt, wird gebastelt und gemodelt. Das heisst man Politik; und um das Parlamenteln und Schachern, um die Flickerei und Pflasterei am kranken Körper der Gesamtheit erregen sich die Leidenschaften. Von dem andern, von der Seuche selbst, von all dem Furchtbaren, das die Menschen zu Betrügern und Mördern aneinander, das Unrecht zu Recht, Lüge zu Wahrheit, Heuchelei zu Ehrlichkeit, Diebstahl zu Eigentum, Ausbeutung zu Lohn, Knechtung zu Vertrag, Gewalt zu Liebe macht, wird nicht gesprochen. Selbst da, wo sich die Not der Zeit am traurigsten fühlbar macht, in den Schichten der arbeitenden Bevölkerung, gibt es keinen Kampf, der von innen kommt, der verzweifelt hinausdrängt aus der kapitalistischen Sklaverei, sondern nur einen vorsichtigen Eiertanz im Dunkeln und Dumpfen und ängstliche Scheu vor radikalen Wandlungen und vor frischer Luft.

Erich Mühsam – Landauers Aufruf zum Sozialismus (1911)

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Geschrieben von

lebowski

Ein Leben zwischen Faulenzerei und Leiharbeit.

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