Wir sind Wulff-ich bin nicht wir!

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Es gibt mehrere gute Gründe, wieso man das Urteil von Jakob Augstein, das "wir " Wulff sind, zurückweisen sollte. Der Haputgrund ist, dass mir das "wir"-Gefühl zum Hals raushängt. "Wir" sind in diesem Land die oberen sechzig Prozent der Bevölkerung und die deutsche Industrie.

"Wir" sind gut durch durch die Krise gekommen, die Wirtschaft brummt, "wir" können stolz auf uns sein. Es ist ominöses "Wir" , dass da beschworen wird, so als ob ich einen Riesenvorteil davon hätte, dass die deutsche Exportwirtschaft Riesengewinne erwirtschaftet. Es ist ja nicht so, dass die Exporterlöse am Ende des Jahres in einem Topf kommen und gerecht unter allen Bürgern aufgeteilt werden. Ganz im Gegenteil arbeite ich gerade in einem Callcenter mit unglaublich verdichteter Arbeit, wo man die Schattenseiten des deutschen Wirtschafterfolges zu spüren bekommt.

Kommt die Rede auf Wulff heißt es beiden Hans-Ulrich-Jörgesses der Republik, dass sich Wulff in seiner Jugend um seine kranke Mutter kümmern musste und sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet habe. Scheiß kleine Verhältnisse aber auch, wo man sich um andere kümmern muss. Diesen Verhältnissen gilt es zu entfliehen in die Welt der Maschmeyers und Piechs. Lebensversicherungen zu verkloppen und fahrende Blechdosen herzustellen ist allemal wichtiger, als sich um kranke Menschen zu kümmern. Dafür kann man zur Not ja auch osteuropäische Frauen engagieren. Aus diesem Verdikt über die kleinen Verhältnisse, aus denen Wulff stammt und denen er entfliehen konnte, spricht die ganze Verachtung für alle Fragen gesellschaftlicher Reproduktion. Der Landwirt, der die Ernährung der Bevölkerung sicherstellt, ohne die wir alle nicht existieren können, darf sich in diversen Fernsehformaten als Trottel verspotten lassen, während man an den Lippen noch jeder Fußballerdumpfbacke hängt, um von seinen Wechselabsichten zu erfahren. Johannes Rau, der als BP genauso unauffällig war wie Wulff, hat die kleinen Verhältnisse, aus denen er stammt wenigstens nicht verleugnet. Und was gibt es da auch zu verleugnen, wenn man nach Dienstschluss gerne Skat spielt. Allemal besser als seine Zeit mit Schauspielerinnendarstellerinnen wie Frau Ferres zu verbringen.

Mir ist auch noch gut erinnerlich, wie sich Wulff als niedersächsischer MP s über die Vollkaskomentalität der Sozialhilfeempfänger beklagt hat. Als aber nach seiner Scheidung die Kohle knapp wurde, hat er sich ganz vollkaskomäßig das Geld für ein neues Haus auf die Schnelle geliehen, um keine Abstriche beim Lebensstandard machen zu müssen. Die meisten Leute, die hierzulande ein anständiges Dach über den Kopf haben wollen, dürfen dafür erstmal zwanzig Jahre Kredite abstottern, und wenn dann eine Scheidung ansteht ist Ende Gelände.

Ins Amt gekommen ist Wulff genauso wie er regiert hat: durch einen Hinterzimmerdeal. Sobald der Mann das Hinterzimmer verlassen hatte, war er qua ordre de mufti auf einmal der Präsident aller Deutschen, der selbstverfreilich "hohes Ansehen" (Hans-Ulrich Jörges) im Volk genießt. Wer mal versucht hat, auf legalem Wege an einen brauchbaren Job zu kommen, und über kein Vitamin B verfügt, kann auch daran ermessen, dass "wir" kein bisschen wie Wulff sind.

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Geschrieben von

lebowski

Ein Leben zwischen Faulenzerei und Leiharbeit.

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