Fachkräfte oder Abschiebungen: Deutschland kann nicht beides haben
Einwanderung Der Mangel an Fachkräften setzt Deutschland immer mehr zu, zugleich wird das Land immer abweisender gegen Migranten und Geflüchtete: Auch die CDU glaubt, sie kann beides haben, Abschottung und Arbeitskräfte. Doch das ist eine Illusion
Christian Lindner spricht vor Studierenden an der Universität von Ghana in Accra
Foto: Imago/Photothek
Kennen Sie dieses Gefühl: Sie haben einen komischen Kollegen, den Sie eigentlich doof finden, dem Sie die Kompetenz absprechen, der richtig nervt und von dem Sie froh wären, wenn er nicht mehr Ihr Kollege wäre. Und dann kommt der Tag, an dem Sie ausgerechnet diesen Kollegen um Hilfe bitten müssen? Niemand anderes kann Ihr Problem lösen. Sie brauchen ihn. Dringend. Den blöden Kollegen. Unangenehm.
So geht es Deutschland gerade. Über viele Jahrzehnte wurden hierzulande Menschen an den Rand gedrängt, gesellschaftlich abgewertet, schlechter bezahlt, strukturell diskriminiert: Ausländer, Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte, Frauen, Ungelernte, Arbeiter und Arbeiterinnen, Arme, Alte und Menschen mit Behinderung.
Und genau auf die ist Deutschland jetzt d
utschland jetzt dringend angewiesen. Bis 2034 wird der Anteil der über 67-Jährigen an allen Erwerbstätigen um 30 bis 45 Prozent ansteigen. Nicht nur das, schon jetzt fehlen laut Konjunkturumfrage des ifo Instituts vom August 2023 in 43,1 Prozent der Unternehmen qualifizierte Arbeitskräfte. Eine Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) ergibt, dass derzeit 1,8 Millionen Stellen unbesetzt sind. Deutschland büße dadurch mehr als zwei Prozent Wirtschaftsleistung ein.Millionen von arbeitenden Menschen werden fehlen. Woher soll Ersatz kommen?Fazit: Bis 2050 wird die Zahl der Menschen im erwerbstätigen Alter in Deutschland um 16 Millionen abnehmen. Wenn niemand zuwandert. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) schreibt deshalb auf seiner Webseite, die Bundesregierung wolle Frauen und Menschen im Rentenalter stärker in den Arbeitsmarkt einbinden. Zuwanderung von Fachkräften soll gefördert und die Potenziale von Geflüchteten genutzt werden. Außerdem werden „die Vorteile einer vielfältigen Arbeitnehmerschaft, die aus Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters sowie verschiedener Herkunft besteht und auch Menschen mit Behinderung einschließt“ beworben.Die Bundesregierung scheint also entschlossen. Das belegt auch eine Reise von Finanzminister Christian Lindner (FDP) im Februar 2023 nach Accra, wo er den Studierenden der Universität Ghana Deutschland als Wirtschaftsstandort und potenziellen Arbeitgeber vorstellt: „Für wen wäre es eine Option, in Deutschland zu arbeiten?“ fragt er. Fast niemand meldet sich: „Nur so wenige?“ Der Moment wird auf Video festgehalten und kursiert darauf im Internet.Wenig später vermutet der FDP-Chef in einem weiteren Video, dass die Zurückhaltung vermutlich von der Sprachbarriere herrührt. In Großbritannien oder den USA wäre es für Einwanderer wegen des Englischen natürlich einfacher. Die FDP fordert dann im Frühjahr 2023, Englisch als zweite Amtssprache in deutschen Behörden einzuführen. Aber wer mehr Ausländer als Arbeitskräfte ins Land holen möchte, muss nicht nur Englisch sprechen.Es braucht auch Termine in Ausländerbehörden, Abschlüsse müssen anerkannt und Zukunftsperspektiven für Zugewanderte und ihre Familien geboten werden. Ein Land, das im europäischen Vergleich bei Rassismus gegenüber Schwarzen den ersten Platz belegt, darf sich nicht wundern, wenn Schwarze Studierende in Accra ihre Hände unten lassen.Lindner warb in Accra um Zuwanderer. Zurück in Berlin klingt er ganz andersNur wenige Monate später erklärt Lindner im Bericht aus Berlin, er wolle die Leistungen für Asylbewerber verringern. Kurz davor sprach sich die FDP für eine Bezahlkarte statt Bargeld und Sachleistungen aus. CSU-Chef Markus Söder fordert eine Zuwanderungsobergrenze von 200.000 Personen jährlich. Im September spricht CDU-Chef Friedrich Merz in Welt TV von den Pull-Faktoren, die Menschen nach Deutschland locken, obwohl diese wissenschaftlich widerlegt sind, und spricht davon, dass sich abgelehnte Asylbewerber beim Arzt die Zähne machen ließen, statt auszureisen, während deutsche Bürger keine Termine bekämen. Die Bevölkerung sei überfordert mit der Integration.Schon im Januar hatte Merz Schulkinder mit arabischer Zuwanderungsgeschichte in der Talkshow Markus Lanz als „kleine Paschas“ bezeichnet. Das Cover des Spiegel zeigt im Oktober Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und titelt: „Wir müssen im großen Stil abschieben“. Gleichzeitig mahnt die Wirtschaftsweise und Leiterin des Sachverständigenrates der Bundesregierung Monika Schnitzer, Deutschland brauche dringend eine Willkommenskultur. Was denn jetzt? Raus oder rein?Ein Blick auf die nüchternen Zahlen kann da helfen: Zwischen 1990 und 1995 beträgt der Wanderungssaldo, also die Differenz zwischen den Zuzügen nach Deutschland und den Fortzügen ins Ausland, 3,2 Millionen Personen. Zwischen 2015 und 2019, dem Zeitraum der sogenannten Flüchtlingskrise, betrug er 2,8 Millionen Personen. 2020 und 2021 stagnierte der Wanderungssaldo bedingt durch die Pandemie, zwischen 0,2 und 0,3 Millionen Personen. Im Jahr 2022 zeigen sich die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Der Wanderungssaldo beträgt 1,5 Millionen Personen. Mehr als während der Flüchtlingskrise und genau richtig, wenn es nach der Wirtschaftsweisen und Ökonomin Monika Schnitzer geht. Sie spricht davon, dass Deutschland 1,5 Millionen Zuwanderer pro Jahr benötige. Deutschland aber will sich seine Ausländer aussuchen und aussortieren: Gute Ausländer rein, schlechte Ausländer raus.Abschieben oder hier behalten? Deutschland sollte sich entscheidenDemzufolge sollten gut qualifizierte ausländische Fachkräfte in festen Arbeitsverhältnissen nicht abgeschoben werden, denn sie gehören zu den „Guten“. Genau das passiert aber. 2020 soll die seit 34 Jahren in Deutschland lebende festangestellte Krankenpflegerin Farah Demir abgeschoben werden. Im August 2022 wird die Altenpflegerin Zoufinar Murad während ihrer Nachtschicht von der Polizei mitgenommen und in einen Flieger nach Armenien gesetzt. Im August 2023 berichtet das Hamburg Journal von dem Mediziner Abdullah Abdulrhman aus der Ukraine. Er arbeitet in Hamburg als Dialysekrankenpfleger und soll jetzt ausreisen.Diese Menschen haben Familien, Freundinnen, sie haben einen Internetanschluss und einen Fernseher. Sie sehen, wie deutsche Politiker*innen über Zugewanderte und Geflüchtete sprechen. Diese Menschen erzählen anderen von ihren Erlebnissen in Deutschland. Sie lesen Zeitung. Auch die, die noch im Ausland leben und sich aussuchen können, ob sie nach Großbritannien, in die USA oder in die Schweiz auswandern sollen, bekommen mit, wie in Deutschland mit Ausländern umgegangen wird. Wer von ihnen auf der Website des BMWK liest: „Zudem unterstützt die Bundesregierung Unternehmen dabei, die Vorteile einer vielfältigen Arbeitnehmerschaft […] zu nutzen und von diesen zu profitieren“, muss lachen und gleichzeitig den Kopf schütteln. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger fragt zu Recht: „Was bieten wir denen denn? Eine der kompliziertesten Sprachen Europas, einen katastrophalen Wohnungsmarkt, eine langsame Bürokratie und nur wenige Kita-Plätze mit wenig flexiblen Öffnungszeiten.“ Dafür aber Rassismus. Herzlich willkommen.Vielleicht ändert sich das jetzt alles, denn die Ampel-Regierung hat im Sommer das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FachKrEG) geändert. In diesem Gesetz steht: Arbeitswillige Fachkräfte, die nach Deutschland einwandern wollen, müssen Sprachkenntnisse, Alter, Berufserfahrung und einen Deutschlandbezug nachweisen. Für IT-Spezialist*innen und LKW-Fahrer*innen fallen die Sprachkenntnisse weg. Für alle anderen verlinkt das Portal „Make it in Germany“ zum Bereich „Deutsch lernen“. Außerdem sinkt das Mindestgehalt: Ausländische Fachkräfte müssen nur noch ein Bruttogehalt von rund 43.800 Euro erreichen, statt 58.400 Euro jährlich. In Engpassberufen beträgt das Mindestgehalt nur noch 39.682,80 Euro. Wie soll das für eine ausländische Fachkraft funktionieren, die Mutter ist und deshalb in Teilzeit angestellt ist? Eine Pflegekraft auf einer Normalstation verdient in Teilzeit weniger.Asylbewerber mit Qualifikation und konkretem Jobangebot, die vor dem 29. März 2023 eingereist sind, können eine Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft beantragen, wenn sie ihren Asylantrag zurücknehmen. Bisher mussten sie dafür ausreisen und sich im Ausland um ein Arbeitsvisum in Deutschland bemühen. Das Gesetz wurde in der Tat verbessert. Für einen großen Andrang „guter Ausländer“ wird das aber nicht sorgen.Dabei ist es ganz einfach: Wer Hilfe will, muss freundlich sein. Das gilt für Sie und ihren unliebsamen Kollegen, für Unternehmen, die Arbeitskräfte suchen und in besonderem Maße für Politiker*innen, die etwas gegen den Fachkräftemangel tun wollen.
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