Geflüchtete und ihr Ankommen in Deutschland: Sehr schwierig. Kann aber gut werden
Integration Sumayya flüchtete aus Syrien und hat es geschafft, als Ingenieurin in Deutschland einen Job zu finden. Aber so etwas gelingt viel zu selten. Eine Berliner Initiative will das ändern
Eine Geschichte wie die von Sumayya hört man nicht oft. Aber es gibt sie. 2015 kam Sumayya mit ihrem Mann Hamoud, einem Journalisten und Islamwissenschaftler, der gerade an seiner Dissertation arbeitet, aus der syrischen Stadt Homs nach Deutschland. Dort tobte der Bürgerkrieg. Abgeschlossenes Studium Ingenieurwissenschaften und Wirtschaft in Kairo. Praxiserfahrung durch die Arbeit in einem „Trockenhafen“ außerhalb von Homs – ein Umschlagplatz für Waren. Mit acht Geschwistern groß geworden. Die Erbschaft der Eltern: Bildung für alle. Bildung wiegt leicht auf der Flucht, man kann sie überall mit hinnehmen und wird vielleicht gesehen.
s aus dem Substantiv Migration das verletzende Kompositum Migrationsproblem macht. „Ich hatte vom ersten Tag an das Gefühl: Hier in Deutschland muss ich mir ein neues Leben aufbauen. Es wird kein Zurück geben. Wenn mich jemand gefragt hat, ob ich wieder nach Syrien gehen möchte, habe ich angefangen zu weinen. Was ist das? Man weint um ein Land und will nicht zurück. Ich hatte alle meine Zertifikate mitgebracht. Sprachniveau B2 und später C1 geschafft, beglaubigte Übersetzungen meiner Abschlüsse, Anträge auf Anerkennung gestellt und nach sechs Monaten bekommen. Dann wurde meine Tochter geboren. Ich habe mich beworben, bekam zwei Einladungen zum Vorstellungsgespräch. Seit 2020 arbeite ich als Bauleiterin bei der Wohnungsbaugesellschaft Mitte im Bestand, also in der Sanierung. Der Start war anstrengend, mitten im Lockdown, ich saß allein im Büro. Aber ich hatte Hilfe. Viel Unterstützung. Ich habe Kollegen begleitet und gelernt, und dann hat mein Chef zu mir gesagt: Hier ist ein Projekt und du bist die Bauleiterin. Das Gefühl des Verlorenseins, das Chaotische – alles hat sich verändert, als ich diese Arbeit bekam. Ich bin angekommen.“Steildach? In Syrien gab es nur FlachdächerAus der Frage, was wird aus mir und uns, schaffen wir es, uns hier ein Leben aufzubauen, wurde Zuversicht. Sumayya lernt den deutschen Vorschriftenwust der Bauwirtschaft, wie eine Sanierung an Häusern mit Steildach funktioniert. „In Syrien gibt es nur Flachdächer.“ Wenn sie fragte, warum das so und nicht anders geht, lachten die Kollegen: „So lautet die Vorschrift.“ Alles keine vergleichbare Hürde mit dem Ankommen. Alles irgendwie Glück. 2015 kamen 850.000 Menschen aus dem Kriegsgebiet Syrien nach Deutschland. Sumayya ist kein Einzelfall, gewiss nicht. Aber die Regel ist sie auch nicht.So eine Geschichte hört man, wie gesagt, leider nicht sehr oft. Aber das muss sich ändern. Deshalb gibt es Organisationen wie die GENA. Auf dem Foto lachen sie. Arwa, Hala, Needa, Nibal, Sohier, fünf von neun Gründerinnen der Initiative. Das Akronym GENA steht für „Gemeinsam neu anfangen“. „Wir sind 50, 60 Jahre alt – wir sind jung! Wir bleiben hier, bis wir 80 oder 90 Jahre alt sind. Was sollen wir so lange machen? Zu Hause bleiben? Das ist nicht gut.“Der Abschluss zählt nichtDie Gründerinnen von GENA sind größtenteils Akademikerinnen. Die Architektin Sohir arbeitet jetzt als Sozialarbeiterin, die Englischlehrerin Arwa hilft im Restaurant, das sie und ihr Mann übernahmen, die Lehrerin und Fotografin Hala ist Bundesfreiwillige im Dienst in einem Familienzentrum, die Wirtschaftswissenschaftlerin Neda hat eine Weiterbildung zur Buchhalterin gemacht und ist jetzt Integrationslotsin, die Soziologin Nibal absolviert ein Praktikum in einem Patenschaftsprojekt für Sozialarbeit und psychologische Betreuung.Sie haben sich nicht unterkriegen und darauf eingelassen, dass ihre Abschlüsse hier erst einmal nicht zählen, ihr Alter eine zusätzliche Hürde ist, kaum jemand wissen will, wie es ihnen mit den Traumata der Vertreibung und Flucht im Gepäck geht, wenig Aufgeschlossenheit dafür da ist, dass ein Beruf und die Möglichkeit, ihn auch in der Fremde ausüben zu können, die dünne Haut ein wenig dicker macht, die Heilung der Wunden unterstützt, das Gehetzt- und Verlorensein ein wenig vergessen lässt.Das Projekt SchattenzensusOb die Idee zu den Frauen kam oder die Frauen zur Idee ist im Nachhinein schwer zu sagen. Arwa hatte irgendwann davon erzählt. „Wir werden einen Schattenzensus machen. Wir teilen alle irgendwie das gleiche Schicksal. Sind gut ausgebildet und haben alle viel Berufserfahrung. Aber das deutsche System ist bislang nicht darauf ausgelegt, uns möglichst schnell in den Arbeitsmarkt aufzunehmen. Ich habe englischsprachige Literatur studiert. Um hier als Englischlehrerin arbeiten zu können, hätte ich Deutsch Niveau C2 gebraucht und eine zusätzliche dreijährige Ausbildung. Versteh das eine, hier herrscht doch Fachkräftemangel.“Versteht es eine? Barbara Meyer vielleicht, Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin der „S 27“ in der Schlesischen Straße in Berlin. Wie lässt sich dieser Ort erzählen? Bildungsmanufaktur ist nur eine mögliche Beschreibung von vielen. Offene Werkschule für minderjährige Geflüchtete, Übungswerkstatt verbunden mit Betrieben. In der „S 27“ wird seit zehn Jahren mit Geflüchteten gearbeitet. „Wir sind Spinner, die versuchen, soziale Themen künstlerisch zu gestalten.“Es entstehen wunderbare Dinge. Kunst, Handwerk, Leben, Hoffnung. Das Thema ist gerade nicht en vogue. Die öffentliche Debatte kreist um die Frage, wie man möglichst dauerhaft verhindern kann, dass noch mehr Geflüchtete kommen. Was fiele dem CDU-Chef Friedrich Merz wohl zu der im Modell gebauten „Weltstadt“ ein, die 150 junge Menschen in den Werkstätten der „S 27“ im Maßstab eins zu zehn gebaut haben? Sie kamen auf allen möglichen Fluchtwegen hierher, erinnern die Häuser ihrer Heimaten, träumen ein neues Zuhause. Perspektivenwechsel ist eine schwierige Angelegenheit. Nicht nur für Merz.Das Label „Flüchtlinge“„Diese Menschen bekommen hier zu der großen Last ihrer Erfahrungen noch einmal und dann für lange oder immer das Label „Flüchtlinge“ aufgedrückt“, sagt Meyer. „Sie sind mit vielen Regeln und Vorschriften belastet, und da kommt man schwer raus. Der Weltenwechsel ist krass. Man gibt mit der Flucht seine Individualität ab und ist von nun an Herkunftsland, Fluchtgrund, Fluchtweg, Anspruch auf Aufenthalt oder Abschiebekandidatin. Die Sozialforschung und die Statistiken erheben Daten und sammeln Erkenntnisse. Insbesondere bei der Zensus-Erhebung spielen die Geschichten der Menschen und realen Kontext-Bedingungen keine Rolle.“2022 gab es in Deutschland eine neue Zensus-Erhebung. Lebensverhältnisse sollten erfasst werden, um Planungen von Bund, Ländern und Gemeinden an die ermittelten Bedarfe anzupassen. „Menschen, die weder feste Wohnungen noch Arbeits- oder gesicherte Bildungszugänge haben, die vielfältigen Benachteiligungen, Diskriminierungen ausgesetzt sind, haben im Umfrage-Setting dieser Erhebung kaum Gelegenheit, über sich Auskunft zu geben. Der Zensus erfasst auch nicht, was Menschen daran hindert, gut und sicher zu leben, dazuzugehören.“ Barbara Meyer weiß, wovon sie redet. „Der Zensus geht von bürgerlichen und arbeiterlichen Kreisen aus, die Daten gehen in alle Ressorts ein, werden zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht. Wir haben uns gefragt, was mit jenen ist, die marginalisiert sind, ausgeschlossen vom Arbeits- und Wohnungsmarkt. Und wie es wäre, schlösse ein Zensus diese Menschen mit ein.“Die Bürokratie ist schwer zu durchschauenBarbara Meyer verweist auf den 2020 vorgelegten Afro-Zensus hin, der Orientierung für das Experiment „Schattenzensus“ gab: Eine Million Menschen afrikanischer Herkunft leben hier, 55 Länder, Durchschnittsalter 44,3 Jahre, die meisten von ihnen sprechen drei Sprachen. Kaum jemand kommt einfach unter auf dem Arbeitsmarkt. Der eben ein Markt ist. Die Hürden sind hoch, die Bürokratie ist schwer zu durchschauen. Im Schatten ist das Leben eine Herausforderung. Gute Gründe, mit syrischen Frauen, die schon länger mit der „S 27“ verbunden sind, das Projekt Schattenzensus anzupacken.„Uns fiel auf, wie viele geflüchtete Frauen arbeitslos sind, obwohl sie in ihren Herkunftsländern jahrelang berufstätig waren und für die Arbeitsaufnahme in Deutschland durchaus qualifiziert wären“, heißt es in der Peer-to-Peer-Studie „Schattenzensus“ der GENA-Frauen. Die sich auf jene Frauen konzentrierte, die akademische Abschlüsse und umfangreiche Berufserfahrung haben, nach 2011 nach Deutschland immigriert und zwischen 35 und 65 Jahre alt sind. „Theoretisch haben die meisten Teilnehmerinnen dieser Studie alle Vorzüge für einen erfolgreichen Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt: ein Mindestniveau der deutschen Sprache (B1), akademische Abschlüsse, Berufserfahrung und sind ehrenamtlich engagiert.“61 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen ihre Berufserfahrungen bei der Jobsuche nicht geholfen haben, 37,5 Prozent haben eine Möglichkeit gefunden, in ihrem Beruf oder einem angelehnten Bereich zu arbeiten. 43 Prozent empfinden ein Schamgefühl aufgrund mangelnder Beschäftigung. Sie hatten doch alles im Griff, haben studiert, Kinder großgezogen, das Leben lag in ihren Händen und ließ sich gestalten oder bewältigen, nichts schwer zu Benennendes bremste eine aus, die Probleme waren konkret und somit zu greifen und zu lösen. Bis die Flucht kam. Ihr Schamgefühl ist paradox. Schämen müssten sich andere.Beziehungen funktionieren nur, wenn sich beide Seiten bewegenDer Schattenzensus der GENA-Frauen beschreibt nicht nur das Dunkle, sondern auch die Potenziale. Vier Vorzüge haben sich herauskristallisiert: ein Mindestniveau an Sprachkenntnissen, akademische Abschlüsse, Berufserfahrung und vor allem ehrenamtliche Tätigkeiten.Franziska Hartmann, Programmkoordinatorin in der „S 27“, adressiert in einem Nachwort zur Zensus-Broschüre die befragten und die fragenden syrischen Frauen: „Das Spektrum eurer Lebenserfahrung ist eine Klaviatur, auf der ihr die unterschiedlichsten Töne anschlagen könnt. Eure Fähigkeit zur Relativierung ist genau das: eine virtuose Fähigkeit. Ihr schätzt eure Situation realistisch ein und werdet flexibel – ohne dabei eure Wünsche in den Wind zu schlagen. Ihr engagiert euch unentgeltlich – ohne daraus abzuleiten, dass die eigene Leistung wertlos sei.“Die syrischen Frauen, die befragt wurden – und sie stehen stellvertretend für unzählige andere –, sind bereits viele Schritte auf die sie aufnehmende Gesellschaft zugegangen. Auf Dauer funktionieren gute Beziehungen allerdings nur, wenn sich beide Seiten bewegen. Aufeinander zu. Ist schwierig. Kann gut werden.
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